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13 Die Förderung des Stillens

Published onJul 01, 2018
13 Die Förderung des Stillens
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13 Die Förderung des Stillens


Rowena Merritt, DPhil, BSc

Zentrale Lerninhalte

  • Definition des Milchkodexes der Weltgesundheitsorganisation (WHO)

  • Gründe für die anhaltend niedrigen Stillraten trotz Verabschiedung des WHO-Milchkodexes

  • Gründe für den Markterfolg von Säuglingsmilchnahrung

  • Strategien der Stillförderung

13.1. Stillförderung

13.1.1. Der Milchkodex

In der Mitte des 20. Jahrhunderts kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Stillförderung. GesundheitsexpertInnen reagierten damit auf die steigende Zahl von Frauen, die sich für industriell hergestellte Säuglingsmilchnahrung entschieden. Unterstützt wurden diese Bemühungen durch den Internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten, auch als WHO-Milchkodex bezeichnet, der 1981 von der Weltgesundheitsversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und UNICEF verabschiedet wurde. Das erklärte Ziel des Kodexes war es, „zu einer sicheren und angemessenen Ernährung für Säuglinge und Kleinkinder beizutragen, und zwar durch Schutz und Förderung des Stillens und durch Sicherstellung einer sachgemäßen Verwendung von Muttermilchersatznahrung, wo solche gebraucht wird. Dies soll auf der Grundlage entsprechender Aufklärung und durch angemessene Vermarktung und Verteilung erfolgen“ [1].

Die Einführung des WHO-Milchkodexes war ein großer Erfolg, der gegen den oftmals heftigen Widerstand der Säuglingsmilchnahrungsindustrie errungen wurde. Drei Jahre nach seiner Verabschiedung hatten 130 Länder nationale Gesetze erlassen oder politische Maßnahmen zur Beschränkung der Werbung eingeleitet [2]. Im Iran ist Säuglingsmilchnahrung z. B. nur auf Rezept erhältlich und die Verpackung muss neutral gestaltet sein, ohne Markennamen oder Werbeaussagen. In Brasilien ist jegliche Werbung oder Verkaufsförderung von Muttermilchersatzprodukten untersagt, die für Kinder unter 2 Jahren bestimmt sind. Und in Papua-Neuguinea besteht ein Werbeverbot für Babyflaschen und -becher, Flaschen- und Beruhigungssauger, und der Verkauf erfolgt unter strengsten Auflagen [3].

Großkonzerne wie Nestlé haben sich ebenfalls zur Einhaltung des Milchkodexes in Entwicklungs- und Hochrisikoländern verpflichtet und viele verschiedene Maßnahmen implementiert, um dies umzusetzen. Hierzu zählt neben dem Verzicht auf „Verkaufsförderung für Säuglings- und Folgenahrung für Babys unter 12 Monaten“ [4] auch die Selbstverpflichtung, Beikostprodukte und Getränke nicht für die Fütterung von Säuglingen unter 6 Monaten auszuweisen, zu bewerben oder zu verkaufen, außer wenn dies aufgrund regionaler Vorschriften oder Maßnahmen zwingend erforderlich ist [5]. Vielfach wird spekuliert, dass Konzerne wie Nestlé solche Verpflichtungen nur eingegangen sind, weil ihr früheres aggressives Marketing in Entwicklungsländern ihnen so viel negative Presse eingebracht hat, [6] und dass sie auf diese Weise die Kritik abmildern wollen. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass Babys in gefährdeten Ländern von diesem Umschwung trotzdem profitieren.

Der Kodex hat allerdings mehrere Schlupflöcher, die die Produzenten von Säuglingsmilchnahrung zu nutzen wissen. Zu der Zeit, als der Milchkodex verfasst wurde, war Säuglingsmilchnahrung die einzige bekannte Form der Säuglingsfertignahrung. Daher haben die Produzenten von Muttermilchersatzprodukten in Reaktion auf den Kodex den Begriff der „Folgenahrung“ erschaffen. Dazu vertraten sie die Auffassung, dass Säuglingsfertignahrung für Kinder über 6 Monate kein Muttermilchersatz mehr sei und deshalb nicht unter dieselben Werbebeschränkungen falle wie Säuglingsmilchnahrung [7].

Vielfach verstoßen auch Länder gegen den Kodex [6], [8]. Das Problem wird wohl auch dadurch verschärft, dass der Kodex offenbar nicht überall bekannt genug ist. So gaben in einer 2008 in Pakistan durchgeführten Umfrage bei Fachpersonal im Gesundheitswesen 70% von 427 Befragten an, die Gesetze ihres Landes zum Stillen nicht zu kennen, und 80% kannten den Kodex nicht. Hingegen hatten 12% ein Sponsoring aus der Pharmaindustrie für die Teilnahme an Schulungen und Konferenzen erhalten und besaßen somit ein persönliches Interesse daran, für Säuglingsmilchnahrung einzutreten [9]. Dieses Beispiel aus Pakistan ist durchaus kein Einzelfall, sondern entspricht der Situation auch in vielen anderen Ländern, die den Kodex angenommen haben [10].

13.1.2. Stillförderung

Zusätzlich zur Einführung des Kodexes haben viele nationale und regionale Gesundheitsbehörden Materialien und Werbekampagnen entwickelt, um das Stillen zu fördern. Bei vielen dieser Kampagnen stand der gesundheitliche Nutzen des Stillens für Kind und Mutter im Vordergrund, bei anderen die emotionale Bindung, die das Stillen herzustellen vermag.

In einer US-Werbeanzeige, die mutmaßlich vom US Surgeon General und den National Institutes of Health stammte, wurde der Nutzen des Stillens für Mutter und Kind herausgestellt, nämlich dass gestillte Babys ein geringeres Risiko haben, krankhaft übergewichtig zu werden, und dass stillende Mütter seltener unter Stress und postpartaler Depression leiden [11]. Im Vereinigten Königreich wurde unter der Marke Start4Life ähnlich wie in den USA der gesundheitliche Nutzen des Stillens beworben, z.B., dass es das Risiko von Brust- und Eierstockkrebs bei der Mutter senkt und die Abwehrkräfte des Babys gegen Krankheiten und Infektionen stärkt (National Health Service [NHS], [12]). In Mexiko-Stadt lancierte die Regierung eine Werbekampagne, deren Slogan übersetzt lautete „Gib deinem Kind die Brust, dreh ihm nicht den Rücken zu“ [13].

Diese Gesundheitsappelle kommen bei den Müttern nicht immer positiv an, und die wissenschaftlichen Belege dafür werden hinterfragt. Beispielhaft hierfür seien die Reaktionen auf die Werbung in Mexiko-Stadt genannt, wo Mütter und Frauenverbände die Auffassung vertraten, die Regierung wolle „den Frauen Schuldgefühle einreden, statt die wahren Hürden auszuräumen, die dem Stillen im Weg stehen“ [14]. Auch der behauptete Zusammenhang zwischen dem Stillen und einer späteren Fettleibigkeit wurde in Frage gestellt [15].

Trotz dieses Gegenwindes ist es unverzichtbar, der effektiven Werbung der Säuglingsmilchnahrungsindustrie solche stillfördernden Maßnahmen entgegenzusetzen, gerade auch in Entwicklungsländern. In weniger entwickelten Ländern ist die Verwendung von Säuglingsmilchnahrung mit großen Gefahren verbunden, denn der fehlende Zugang zu sauberem Wasser und die unzureichende Sterilisierung der Flaschen können schwerwiegende Folgen haben, von Infektionskrankheiten bis hin zum Tod des Kindes [16], [17]. Infolgedessen wurden leistungsfähige Unterstützungsstrukturen aufgebaut. In Afrika bspw. setzt UNICEF auf lokaler Ebene an und schafft kommunale Strukturen wie z. B. Selbsthilfegruppen für Mütter, Stillunterstützung durch das Gesundheitssystem sowie Gesundheitspersonal auf Gemeindeebene [18]. Außerdem hat UNICEF Kampagnen zur Stillförderung aufgelegt; ein Werbemotiv zeigt bspw. eine stillende Frau auf einer Farm mit dem Slogan, dass Stillen und Arbeiten sich nicht ausschließen müssen. Ein anderes Motiv zeigt eine stillende Frau in einer Fabrik mit der Aussage, dass Stillen etwas Universelles ist, das Kindern auf der ganzen Welt Schutz bietet und einen optimalen Start ins Leben ermöglicht [19].

13.1.3. Werbung, Stillförderung und der WHO-Milchkodex

Ungeachtet aller Fortschritte, die mit dem Kodex und den Förderungsmaßnahmen erzielt wurden, bleibt noch viel zu tun. Die Stillraten (für ausschließliches Stillen über die empfohlenen 6 Monate) sind in vielen Entwicklungs- und auch entwickelten Ländern weiterhin niedrig, auch dort, wo der Kodex bereits übernommen und umgesetzt und hohe Summen in Gesundheitskampagnen investiert wurden.

Aktuelle Zahlen aus Deutschland belegen, dass im Alter von 3 Monaten rund 40% der Babys ausschließlich gestillt werden und im Alter von 6 Monaten noch rund 22% [20]. In Haiti wurde im Zeitraum 2008–2012 nur in 46,7% der Fälle frühzeitig mit dem Stillen begonnen, und nach 6 Monaten betrug der Anteil ausschließlich gestillter Säuglinge nur noch 39,7% [21]. Für das Vereinigte Königreich ergab der Infant Feeding Survey aus dem Jahr 2010, dass 81% der Mütter ihre Kinder zumindest anfangs stillen. Schon nach einer Woche fällt der Anteil der gestillten Kinder jedoch auf 69% und nach 6 Monaten sind es nur noch 34%. Für viele Säuglinge stellt Säuglingsmilchnahrung demnach eine wichtige Nahrungsquelle dar [22].

Da die Materialien zur Stillförderung stark auf den gesundheitlichen Nutzen des Stillens abzielen, liegt die Vermutung nahe, Frauen würden hauptsächlich deshalb nicht oder nicht lange stillen, weil sie nicht wissen, wie gesund es ist. Das trifft jedoch keineswegs immer zu: Eine aktuelle Umfrage hat ergeben, dass 83% der Frauen im Vereinigten Königreich den gesundheitlichen Nutzen des Stillens kennen – unabhängig davon, welche Methode der Kindesernährung sie bevorzugen [22]. Demnach stellt ein Mangel an Aufklärung und Wissen nicht immer das größte Stillhindernis dar – Mütter entscheiden sich zuweilen trotzdem gegen das Stillen.

Es wäre auch leicht, die nach wie vor aggressive Werbung für die niedrigen Stillraten verantwortlich zu machen. Im britischen Infant Feeding Survey gaben 46% der Mütter an, sie hätten schon einmal Werbung für Anfangsmilch gesehen, die ja eigentlich nicht beworben werden darf. Auf die Frage, warum sie industriell hergestellte Säuglingsmilchnahrung verwenden, antworteten 18% der Mütter, diese sei besser für das Kind oder enthalte mehr Nährstoffe [23]. Aber ist es vielleicht auch an der Zeit, die Stillförderungsmaßnahmen der Gesundheitsbehörden auf den Prüfstand zu stellen, sich die Erfolgsstrategien der Säuglingsmilchnahrungsindustrie zu eigen zu machen und diese für das gesellschaftliche Wohl einzusetzen statt zur Profitsteigerung? Wie Prof. Hastings einst sagte, als er mit einer ähnlichen Taktik gegen die Tabakindustrie vorging: „Warum sollte der Teufel die größten Verlockungen für sich allein gepachtet haben?“ [24].

13.2. Sozialmarketing und Stillraten

13.2.1. Was ist kritisches Sozialmarketing?

Kritisches Marketing „will nicht nur benennen, was am kommerziellen Marketing ‚schlecht und falsch‘ ist, sondern auch über dessen Wesen nachdenken, von seinen Erfolgen lernen und seine Schwächen analysieren“ [25]. Die Anwendung des kritischen Marketings im Kampf gegen den Tabak ist erfolgreich etabliert und war dringend notwendig, waren doch in den späten Nullerjahren, als die EU über das Tabakwerbeverbot diskutierte, schätzungsweise 200 Lobbyisten in Brüssel im Dienste der Tabakindustrie aktiv [26].

Aus der kritischen Analyse des kommerziellen Marketings ergab sich eine umfangreiche und überzeugende Evidenzbasis, die belegt, dass Marketing tatsächlich das Verhalten beeinflussen kann. Dies spiegelt sich auch in einer Untersuchung des National Consumer Councils im Vereinigten Königreich wider, die ergab, dass ein durchschnittliches Kind heutzutage dort im Alter von 10 Jahren bereits bis zu 400 Markennamen kennt. In der Studie waren außerdem 69% aller 3-Jährigen in der Lage, das goldene M von McDonald's zu erkennen, während die Hälfte der 4-Jährigen ihren eigenen Nachnamen nicht kannte [25].

13.2.2. Von der Konkurrenz lernen

Konkurrenz ist in der Wirtschaft Teil des Alltags – es herrschen Verdrängungskampf und das Recht des Stärkeren, und jede Bedrohung lässt sich als Chance nutzen, indem man sich ansieht, was die Konkurrenz macht. So analysiert McDonald's sorgfältig das Angebot von Burger King, um sein eigenes zu verbessern, und Cow & Gate beobachtet sehr genau die Marketingstrategien von SMA und allen anderen WettbewerbernInnen

Ebenso können auch diejenigen, die sich für Stillförderung einsetzen, Erkenntnisse über ihre Zielgruppe gewinnen, indem sie die Erfolge und Misserfolge der kommerziellen Produzenten von Säuglingsmilchnahrung studieren. Hierfür können sie sich Fragen stellen wie: „Welche Aussagen kommunizieren die Wettbewerber? Welche Gefühle vermitteln sie Müttern?“ oder „Welche Kommunikationskanäle nutzen sie?“. Alle diese Fragen werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch ausführlich behandelt. Wer Maßnahmen zur Gesundheitsförderung einleiten will, kann hier Erkenntnisse gewinnen, wie die Säuglingsmilchnahrungsindustrie Marketinginstrumente in ihrem Sinne einsetzt und wie man mit den gleichen Mitteln gegensteuern kann.

13.2.3. Den Blickwinkel der Mutter einnehmen

Wenn Produzenten von Säuglingsmilchnahrung und andere kommerzielle AnbieterInnen ihre Marketingstrategien entwickeln, versuchen sie, sich bestmöglich in ihre Zielgruppe hineinzuversetzen. Die Industrie betreibt einen großen Aufwand, um ihre KundInnen genau kennenzulernen, und setzt dafür eine Kombination aus ethnografischer Forschung und detaillierten Segmentierungsstudien ein. Oft werden erhebliche Summen investiert, um sich ein umfassendes Bild vom Leben der Zielgruppe zu machen. Es ist nicht klar, wie viel die Unternehmen für diese KundInnenforschung ausgeben – in der Regel hängt das Budget u. a. von der Branche, dem Produkttyp, den Marktbedingungen und dem Lebenszyklus des Produkts ab. Eine Unternehmensbefragung der Beratungsfirma Frost and Sullivan im Jahr 2013 hat jedoch ergeben, dass die durchschnittlichen Ausgaben für Marktforschung 1% der Einnahmen betrugen; d. h. ein Unternehmen, das 100 Millionen Dollar pro Jahr einnimmt, gibt rund 1 Million Dollar für Marktforschung aus [27].

Über ein Budget in dieser Größenordnung wird die andere Seite, die sich für die Förderung des Stillens einsetzt, wohl niemals verfügen. Umso wichtiger ist es, dass sie die Sichtweisen und Situationen der Mütter ganz genau kennt, damit sie wirksame Kampagnen und bedarfsgerechte Angebote entwickeln kann, die die gewünschte Verhaltensänderung herbeiführen (d. h. die Steigerung des Anteils der Frauen, die sich für ein ausschließliches Stillen über 6 Monate entscheiden). Wer sich für die Gesundheitsförderung einsetzt, muss sich folgende Fragen stellen:

  • Welchen Nutzen hat die Flaschenfütterung für Mütter (subjektiv und objektiv)?

  • Was steht dem Stillen aus Sicht der Mütter entgegen (subjektiv und objektiv)?

  • Auf wessen Rat hören Mütter, wem vertrauen sie (wer hat den größten Einfluss auf sie)?

  • Welches Gefühl gibt das Stillen bzw. das Füttern mit der Flasche der Mutter (positive und negative Emotionen)?

  • Welchem Druck sind Mütter im Alltag ausgesetzt (nicht nur im Bezug auf das Stillen, sondern ganz allgemein)?

Wenn sich Gesundheitsbehörden mit diesen Fragen auseinandersetzen, können sie effektivere Kampagnen und Serviceangebote konzipieren, die nicht nur den gesundheitlichen Nutzen vermitteln, sondern auch einige andere Hürden beseitigen, mit denen Mütter konfrontiert sind.

13.2.4. Auf vorhandenem Wissen aufbauen

Das Gute ist, dass die AkteurInnen der Gesundheitsförderung nicht bei Null anfangen müssen. Die wichtigsten Gründe, weshalb Mütter das Stillen frühzeitig „aufgeben“ (obwohl sie nach eigenen Angaben oft gerne weiter gestillt hätten und/oder ihre Entscheidung später bereuten), sowie der Nutzen, den die Mütter in der Flaschenfütterung sehen, sind in der einschlägigen Fachliteratur bereits beschrieben.

Die Gründe für das „Aufgeben“ sind vielfältig – die Mutter muss wieder arbeiten; sie befürchtet, das Kind würde nicht genug trinken [28], [29], oder, was besonders häufig vorkommt, sie findet das Stillen „unpraktisch oder anstrengend“ [30]. Andere geben an, dass sich ihr Kind nicht richtig anlegen lässt [31] oder dass sich durch die Flaschenfütterung die Kinderbetreuung besser aufteilen lässt [32].

Außerdem scheint das Stillen oft mit unrealistischen Erwartungen verbunden zu sein, u.a., weil sich das Stillen im Vorbereitungskurs „so einfach angehört hat“ [33] und das Stillen in Materialien zur Stillförderung romantisiert wird. Viele Mütter und Väter haben später den Eindruck, dass sie „auf die Realität nicht gut vorbereitet waren“. Für manche Mütter spielte auch der Wunsch eine große Rolle, möglichst rasch aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Einigen war dies wichtiger, als das Stillen richtig zu erlernen. Diese Mütter dachten dann, dass sie schneller nach Hause entlassen werden, wenn sie ihren Babys Säuglingsmilchnahrung geben [34].

13.3. Von der Säuglingsmilchnahrungsindustrie lernen

13.3.1. Werbestrategien

Produzenten von Muttermilchersatzprodukten positionieren ihre Marken gern in Verbindung mit dem Bild einer Mutter, die Verantwortung trägt, hart arbeitet und zugleich das Beste für ihr Kind will. In einigen Entwicklungsländern wird Säuglingsmilchnahrung außerdem als besonders fortschrittlich dargestellt [34]. Die Unternehmen setzen eine von Aufstieg und Erfolg geprägte Bildsprache ein. Dabei vermitteln sie Verständnis für die Mutter, die die große Aufgabe hat, ein Kind großzuziehen, und diese Aufgabe hervorragend bewältigt – und das hört natürlich jede erschöpfte junge Mutter gern. Ein Beispiel hierfür ist die Werbung von SMA für Folgenahrung, die im Vereinigten Königreich im Fernsehen lief und darauf abhebt, welche Herausforderung das Leben mit einem Baby manchmal sein kann:

„Wir von SMA können bei unserer Folgenahrung auf 90 Jahre Erfahrung mit der Ernährung von Babys zurückgreifen. Wir kennen also unsere Mamis gut, und Sie können uns glauben: Sie machen das ausgezeichnet!“ [35]

Einige weitere Beispiele für Werbebotschaften:

  • Eine Bio-Kampagne von HiPP zielte auf den Schlafmangel ab, unter dem junge Mütter oft leiden, und lancierte eine Kampagne mit dem Motto „Damit alle gut schlafen können“. In Wirklichkeit schlafen Mütter von Babys, die Säuglingsmilchnahrung bekommen, nicht mehr als stillende Mütter [36]. Aber wenn die Werbung suggeriert, dass das Kind nachts gut schläft, ist das für unter Schlafmangel leidende Mütter natürlich verlockend. Sie setzt damit auf den verbreiteten Glauben, dass Kinder, die mit Säuglingsmilchnahrung gefüttert werden, zwischen den Fütterungen länger schlafen [37], [38].

  • In den TV-Werbespots „Heute für morgen“ für seine Folgenahrung weiß Aptamil das Stillen geschickt für sich zu nutzen. Dort heißt es: „Das Stillen bietet [Babys] den besten Start ins Leben. Auf der Grundlage von 30 Jahren Erfahrung in der Muttermilchforschung haben unsere Forscher die Aptamil Folgemilch entwickelt.“ [39] Das gibt Müttern das gute Gefühl, dass sie ihr Kind mit etwas füttern, das „genauso gut“ ist wie Muttermilch, und dass sie keine Sorge haben müssen, ihrem Kind zu schaden, wenn sie nicht stillen. Dies ist wieder genau das, was Mütter hören wollen – vor allem weil viele Mütter Schuldgefühle haben, wenn sie gar nicht oder kürzer als empfohlen stillen [40].

  • In Russland bewirbt Enfamil seine Milchnahrung damit, dass sie die geistige Entwicklung des Babys fördern kann: „Die Liebe der Mutter und die richtige Ernährung können zusammen Wunder wirken. Enfamil premium – damit sich das Gehirn voll entwickeln kann“ (Enfamil, [41]). Auch andere Produzenten setzen auf diese Taktik und suggerieren, die ihrer Säuglingsmilchnahrung zugesetzten Stoffe könnten die Intelligenz steigern (Alpha Parent Blog, [42]). Das klingt attraktiv für viele Mütter, die sich für ihr Kind später eine erfolgreiche akademische und berufliche Laufbahn wünschen [43].

  • Eine weitere sehr zugkräftige Werbung war ein Spot von Cow & Gate mit lachenden Babys. Ein lachendes Baby lässt unweigerlich auch den Betrachter lächeln und verkörpert vor allem genau das, was sich eine Mutter für ihr Kind wünscht [44]. Dasselbe Unternehmen hat auch noch einen Spot zu dem Lied „If you‘re happy and you know it, clap your hands“ herausgebracht [45]. In beiden Spots betont Cow & Gate seine rund 100-jährige Erfahrung und zielt auf das Vertrauen ab, das eine Mutter in das Unternehmen und die „essenziellen“ Nährstoffe der Säuglingsmilchnahrung setzen soll.

Unter dem Strich scheinen die Produzenten von Säuglingsmilchnahrung zu versuchen, den Müttern zu versichern, dass Flaschenfütterung nicht schlecht für das Kind ist und dass sie das Stillen ohne schlechtes Gewissen aufgeben können (obwohl man weiß, dass viele Mütter Schuldgefühle empfinden und aus diesem Grund oftmals angeben, sie hätten aus gesundheitlichen Gründen früh abgestillt) [33]. Betont wird also der Nutzen für das Baby anstelle der nachteiligen Folgen des Nichtstillens.

13.3.2. Werbung durch Fachpersonal im Gesundheitswesen

In einigen Ländern kombinieren die Produzenten ihre Werbeaussagen mit dem Aufbau eines „vertrauenswürdigen“ Vertriebsteams aus Fachpersonal im Gesundheitswesen, das Gratisproben von Säuglingsmilchnahrung an Mütter ausgibt und Werbegeschenke mit dem Logo der Produzenten verteilt. Parallel dazu bieten die Produzenten Müttern im Internet Informationen und Beratung durch Fachpersonal im Gesundheitswesen an, z. B. auf unternehmenseigenen Internetseiten und in Foren der sozialen Medien.

Im Vereinigten Königreich können Mütter z.B. auf der Internetseite von Cow & Gate mit Fachpersonal im Gesundheitswesen chatten und erhalten sofort Antworten auf ihre Fragen. Dies ist vor allem für ängstliche und gestresste Mütter wichtig. Zum Angebot des Unternehmens zählt auch ein Anfangsmilch-Starterpaket mit 6 Fläschchen zu 70 ml, 6 Saugern und einem Kuscheltier. Das Starterpaket von Aptamil enthält ähnliche Artikel, die aber zudem vorsterilisiert und sofort einsatzbereit sind. Für eine müde, gestresste und mit Überforderung kämpfende Mutter ist ein einfaches, gebrauchsfertiges, anwendungsfreundliches und unkompliziertes Gesamtpaket genau das Richtige. Zum Thema Stillen hingegen erhalten junge Mütter allenfalls eine kleine Broschüre.

In einem Bericht aus Hongkong wird eine Mutter mit den Worten zitiert, sie habe „Spielzeug, das bei Toys ‚R‘ Us 599 HKD kosten würde, gratis bekommen, wenn ich für 1200 HKD Säuglingsmilchnahrung bestellt habe“. Außerdem wurde berichtet, dass den ersten 200 KundInnen, die 6 Dosen Säuglingsmilchnahrung bestellten, ein kostenloses Fisher-Price-Spielzeugset versprochen wurde [46]. In den USA geben viele Krankenhäuser den Müttern bei der Entlassung eine Tasche mit Werbematerialien zu Säuglingsmilchnahrung mit; einer landesweiten Umfrage zufolge verteilen 91% der Entbindungskliniken in den USA solche firmengesponserten „Begrüßungstaschen“ [47].

In anderen Ländern, insbesondere solchen mit niedrigem bis mittlerem Pro-Kopf-Einkommen, sind VertreterInnen der Säuglingsmilchnahrungsindustrie an Fachpersonal im Gesundheitswesen herangetreten, um diesem finanzielle Anreize für die Bewerbung ihrer Produkte zu bieten. Dies betraf so unterschiedliche Länder wie die Ukraine, Indien, China, Indonesien, die Philippinen, Togo und Burkina Faso sowie weitere Länder in Zentral- und Westafrika [49]. Aus China ist bekannt, dass Produzenten von Säuglingsmilchnahrung von Fachpersonal im Gesundheitswesen Kontaktinformationen von jungen Familien erhalten haben, um bei ihnen für ihre Produkte zu werben [48].

Dieses aggressive Marketing hat dazu geführt, dass die Flaschenfütterung vielerorts zur gesellschaftlichen Norm geworden ist und schon mehrere Generationen von Frauen mit der Flasche großgezogen wurden. Als diese Frauen dann selbst Mütter wurden, haben sie sich ebenfalls häufig für das Fläschchen entschieden, da die gesellschaftlichen Normen das Stillen wenig unterstützten [22]. Die Wirkung dieses Marketings wird durch die Werbung der Säuglingsnahrungsindustrie noch verstärkt, die die Eltern darin bestärkt, ohne schlechtes Gewissen Säuglingsmilchnahrung zu kaufen – trotz aller gegenteiligen Bemühungen von Initiativen zur Stillförderung.

13.4. Fazit

Trotz der Einführung des Kodexes und der Beschränkungen, die er der Verkaufsförderung auferlegt, wird industriell hergestellte Säuglingsmilchnahrung nach wie vor bei Müttern beworben – auf direktem Weg in Massenmedien und Printanzeigen und indirekt durch Anreize, Gratisproben und Gesundheitsfachpersonal. Auch das Marketing im Internet auf unternehmenseigenen Internetseiten und in den sozialen Medien ist auf dem Vormarsch [49].

Mit ihrem Marketing ist es den Produzenten gelungen, Säuglingsmilchnahrung als eine angesehene und fortschrittliche Option zu positionieren, auf die Mütter ohne schlechtes Gewissen zurückgreifen können, da sie genauso gut ist wie Muttermilch (oder sogar besser). Angesichts der gigantischen Werbebudgets, die den Produzenten von Säuglingsmilchnahrung zur Verfügung stehen [50], ist es den AkteurInnen der Gesundheitsförderung praktisch unmöglich, das Kaufverhalten der KundInnen unmittelbar zu beeinflussen. Aber die Stillförderung kann etwas davon lernen, wie diese Unternehmen ihre Produkte positionieren und Fachpersonal im Gesundheitswesen einbinden.

Eine solche Produktpositionierung könnte auch für die Förderung des Stillens und entsprechende Kampagnen genutzt werden. Damit ließe sich die nötige mediale und öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen, um Druck auf diejenigen auszuüben, die die Produkte verteilen, und den Gesetzgeber dazu zu bewegen, die Vermarktung von Säuglingsmilchnahrung strenger zu kontrollieren. Zugleich könnte ein solches Vorgehen den AkteurInnen des Gesundheitswesens helfen, kombinierte Strategien für Öffentlichkeitsarbeit und Marketing auszuarbeiten, die die Mütter auch emotional erreichen, statt sich rein auf informative Aufklärungsarbeit zu beschränken.[51]

Kernpunkte

  • Der Milchkodex der WHO ist ein Paket von Empfehlungen, das die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten, Babyflaschen und -saugern regulieren soll und in jedem Land in nationales Recht überführt werden muss, um dort Geltung zu erlangen.

  • Der Milchkodex der WHO ist in vielen Ländern nicht Bestandteil des nationalen Rechts, und wenn doch, ist die Einhaltung schwierig zu überwachen, sodass die Produzenten von Säuglingsmilchnahrung zahlreiche Schlupflöcher ausnutzen können.

  • Die Produzenten verfügen über beträchtliche Budgets. Dadurch sind sie in der Lage, ihre Säuglingsmilchnahrung erfolgreich als angesehene und fortschrittliche Option zu positionieren und ÄrztInnen und sonstigem Gesundheitspersonal Anreize zu bieten, den Müttern ihre Produkte zu empfehlen.

  • Die Säuglingsnahrungsindustrie hat sich mit ihren ausgeklügelten Marketingkampagnen, die voll auf die Bedürfnisse der Mütter ausgerichtet sind, als sehr erfolgreich erwiesen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass die AkteurInnen der Stillförderung von diesen Strategien lernen.

Rowena Merritt, DPhil, BSc entwickelt, leitet und evaluiert Sozialmarketing- und Verhaltensänderungsprogramme weltweit und betreibt Sozialforschung. Nach ihrer Promotion (PhD) an der Oxford University im Jahr 2006 wirkte sie am Aufbau des National Social Marketing Centre in London mit. Seit 2010 leitet sie ihr eigenes Unternehmen und entwickelte einen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten für Hongkong, Tools zur Berechnung der Rentabilität von Verhaltensänderungsprogrammen, ein Schulungsprogramm für eine Umweltschutz-NGO sowie HIV-Präventionsprogramme. Derzeit arbeitet sie im Auftrag der WHO an einem Programm zur Förderung der Müttergesundheit im westpazifischen Raum.

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