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2 Muttermilch, weltweite Gesundheit und nachhaltige Entwicklung

Published onJul 01, 2018
2 Muttermilch, weltweite Gesundheit und nachhaltige Entwicklung
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2 Muttermilch, weltweite Gesundheit und nachhaltige Entwicklung


Leith Greenslade

Zentrale Lerninhalte

  • Wichtigkeit des Stillens

  • Beitrag des Stillens zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheiten

  • Wirtschaftlicher und gesundheitlicher Nutzen einer Erhöhung der Stillrate

  • Gründe, warum Mütter trotz des wissenschaftlich belegten Nutzens nicht stillen

  • Notwendige Verlagerung politischer Schwerpunkte zur weltweiten Steigerung der Stillraten

2.1. Die Bedeutung gut informierter und selbstbestimmter Mütter

Die Natur hat Mütter befähigt, eine außergewöhnlich schützende Substanz für die gesunde Entwicklung ihrer Babys zu bilden und abzugeben – die Muttermilch. Dank dieser evolutionären Innovation erhält der Säugling in den ersten 6 Lebensmonaten die gesamte Nahrung, die er benötigt. Darüber hinaus schützt die Muttermilch vor Infektionskrankheiten, senkt das Erkrankungs- und Sterberisiko und fördert die gesunde Entwicklung des Verdauungstrakts und des Gehirns bis weit in die frühe Kindheit.

Anders als die meisten Gesundheitsinterventionen liegen Produktion und Weitergabe der Muttermilch ganz und gar im „Hoheitsbereich“ der Mütter. Diese fungieren gewissermaßen als „Ärztinnen“, die ihre „Medizin“ verabreichen. Um die schützenden Kräfte der Muttermilch zur vollen Entfaltung zu bringen, reicht es nicht aus, dass Mütter gut über den Nutzen der Muttermilch Bescheid wissen. Sie müssen außerdem frei und ungehindert ihre Entscheidung für das Stillen umsetzen können. Falls Mütter krankheitsbedingt oder aufgrund von Abwesenheit nicht stillen können, sollten sie dennoch die Möglichkeit haben, ihren Neugeborenen die eigene Muttermilch oder, sollte dies nicht möglich sein, zumindest Spenderinnenmilch zur Verfügung zu stellen.

Dabei muss den AkteurInnen im Entwicklungsbereich bewusst sein, dass das Stillen für nahezu alle Mütter – pro Jahr bringen schätzungsweise 140 Millionen Frauen ein Kind zur Welt – nicht immer eine Frage der persönlichen Entscheidung ist. Je nach Schwere der Hindernisse kann eine Mutter durch außerhalb ihrer Kontrolle liegende Faktoren, z. B. einen niedrigen Bildungsgrad, fehlende familiäre Unterstützung und erforderliche Erwerbstätigkeit, so stark eingeschränkt sein, dass sie ihr Kind nicht stillen kann, obwohl sie es möchte. Millionen von Müttern ist das Stillen unter den Bedingungen, in denen sie leben, schlichtweg nicht möglich. Bei diesen Frauen wird eine Verminderung oder Beseitigung der äußeren Hindernisse letztlich zu einer nachhaltigen Zunahme des Stillens führen.

Frauen, die mit den größten Stillhindernissen konfrontiert sind, leben außerdem am ehesten in Gesellschaftsschichten, in denen die Kinder von den negativen Folgen des Nichtstillens am stärksten betroffen sind. In den Bevölkerungsgruppen mit sehr niedrigen Stillraten sind die Krankheits- und Sterberaten bei Neugeborenen und Kindern außerordentlich hoch. Um die Stillraten zu steigern, sollten Entwicklungsbemühungen in erster Linie darauf abzielen, den in solchen Hochrisikoumfeldern lebenden Müttern eine echte Entscheidung für das Stillen zu ermöglichen. Dies kann durch unterstützende Maßnahmen in der Familie, am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum geschehen.

2.2. Der Nutzen der Muttermilch

Im Verlauf der letzten 15 Jahre hat das Wissen über den gesundheitlichen Nutzen des Stillens enorm zugenommen und wurde umfassend bekannt gemacht. Die Gesundheitscommunity ist sich weltweit einig, dass die Muttermilch das Kind umfassend schützt, da sie sämtliche Nährstoffe, Vitamine und Mineralstoffe enthält, die das Kind in den ersten 6 Lebensmonaten benötigt. Daneben enthält die Muttermilch aber auch Antikörper zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten, insbesondere für Diarrhö und Pneumonie [1], [2], sowie Enzyme, die für eine optimale Verdauungstätigkeit erforderlich sind. Auch ist mittlerweile weitgehend unbestritten, dass der gesundheitliche Nutzen des Stillens bis weit in die frühe Kindheit hinein anhält – wenn nicht sogar darüber hinaus. Der Nutzen des Stillens für die Frau besteht u. a. in einem verminderten Schwangerschaftsrisiko und möglicherweise auch in einem geringeren Risiko, im Verlauf des gesamten Lebens an bestimmten Krebsarten, Adipositas, Diabetes und Herzkrankheiten zu erkranken [3].

Die Evidenz für den Nutzen der Muttermilch wurde in mehreren Artikelreihen der Fachzeitschrift Lancet zu Gesundheit und Ernährung von Müttern, Neugeborenen und Kindern dargestellt. Die Reihen zu den Themen Unterernährung von Mutter und Kind (Maternal and Child Undernutrition) [4], Ernährung von Mutter und Kind (Maternal and Child Nutrition) [5], Pneumonie und Diarrhö im Kindesalter (Childhood Pneumonia and Diarrhoea) [6], Jedes Neugeborene (Every Newborn) [7] sowie Stillen (Breastfeeding) [8] belegen allesamt Folgendes: Gestillte Kinder überleben mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit die ersten 6 Lebensmonate [9]; die Aufnahme des Stillens innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt könnte das Sterberisiko von Neugeborenen insgesamt um 43% senken [10], [11], [12]; durch das Stillen könnten jährlich 823,000 Todesfälle bei Kindern sowie 20,000 Todesfälle durch Brustkrebs verhindert werden [13]. Andere Quellen kommen zu ähnlichen Ergebnissen, etwa der Born Too Soon Report (Bericht der WHO über Frühgeburten), in dem die Bedeutung der Muttermilch für Frühgeborene unterstrichen wird [14], sowie die Global Burden of Disease Study 2016 (GBD-Studie), in der suboptimales Stillen zu den wichtigsten verhaltensbedingten Risikofaktoren für die Kindersterblichkeit gezählt wird, vor allem in afrikanischen und asiatischen Ländern [15]. Laut dieser Evidenzlage lassen sich die Neugeborenen- und die Kindersterblichkeit durch keine andere Einzelmaßnahme so stark senken wie durch den Einsatz von Muttermilch.

Weniger Einigkeit besteht dagegen bei der Frage nach dem langfristigen gesundheitlichen und sonstigen Nutzen des Stillens für betroffene Mütter und deren Kinder. In zahlreichen Studien wird über einen gesundheitlichen Nutzen bei Erwachsenen berichtet, etwa weniger Herzerkrankungen, Diabetes und Krebserkrankungen sowie eine bessere kognitive Leistung, einschließlich eines höheren IQ. Aber auch positive wirtschaftliche Konsequenzen werden beschrieben, wie bspw. höheres Bildungsniveau und Einkommen [16]. Diese Untersuchungen weisen jedoch allesamt methodische Schwächen auf, da sie sich auf retrospektive Querschnittsstudien und nicht auf randomisierte kontrollierte Studien stützen. In einer neuen Metaanalyse dieser Studien wird darauf hingewiesen, dass sich angesichts dieser methodischen Schwächen nur in begrenztem Maß eindeutige Schlussfolgerungen ziehen lassen [17], [18].

In der Fachartikelreihe des Lancet über das Stillen aus dem Jahr 2016 wurden die Auswirkungen des gesundheits- und entwicklungsbezogenen Nutzens auf die Gesundheitskosten und das Wirtschaftswachstum quantifiziert. Demnach könnten durch einen Anstieg der Stillraten allein in den USA, im Vereinigten Königreich, in Brasilien und China Gesundheitskosten in Höhe von 400 Mio. USD eingespart werden. Außerdem würden aufgrund einer erhöhten Produktivität der Arbeitskräfte zusätzliche 300 Mrd. USD in die Volkswirtschaften fließen [19].

2.3. Das Stillen als Strategie für Chancengleichheit

Kinder, die in einkommensschwachen Familien in Hochrisikoumfeldern geboren werden, profitieren überproportional von den speziellen schützenden Eigenschaften der Muttermilch. Denn diese Kinder bekommen mit höherer Wahrscheinlichkeit Infektionen, die durch schlechte Lebensbedingungen noch verschlimmert werden, und haben mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung, da sie häufig durch das Netz der staatlichen Gesundheitssysteme fallen. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie führte ein Anstieg der Stillprävalenz um 10%, bezogen auf alle Haushalte, zu einer stärkeren absoluten Verringerung der Kindersterblichkeit in den am stärksten von Armut betroffenen Haushalten [20]. Die AutorInnen kamen zu dem Schluss, dass sich die wohlstandsbedingte Ungleichheit bei der Kindergesundheit durch das Stillen wirkungsvoller vermindern lässt als durch andere Maßnahmen.

Auch wenn sich die Stillraten im Gegensatz zu anderen gesundheitsbezogenen Interventionen zwischen Haushalten mit hohem und niedrigem Einkommen nur geringfügig unterscheiden, sind die Raten für frühes und ausschließliches Stillen in Ländern mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen gerade bei besonders einkommensschwachen Familien nach wie vor sehr niedrig [21]. Weltweit werden nur 40% der Säuglinge aus den einkommensschwächsten Haushalten in den ersten 6 Lebensmonaten ausschließlich gestillt, und in zahlreichen Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeit sind die Stillraten sogar noch niedriger [22]. So liegt die Rate für ausschließliches Stillen in den 10 Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeit unter 50% (Tab. 2.1), in manchen dieser Länder sogar unter 20%. Außerdem beläuft sich die Rate für ausschließliches Stillen in 8 der 10 Länder mit den meisten Todesfällen im Kindesalter auf unter 50% (Tab. 2.2). Hierzu zählen Indien, Nigeria, Pakistan, China, die Demokratische Republik Kongo, Indonesien, Angola und die Philippinen.

Tab. 2.1 Stillraten in Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeitsrate, 20151.

Land

Kindersterb-lichkeitsrate 2016

Frühes Stillen, % (0–1 Stunde) 2008–2015

Ausschließliches Stillen, % (0–6 Monate) 2008–2015

Angola

157

55

Keine Daten

Somalia

133

26

5

Tschad

127

29

3

Zentralafrikanische Republik

124

44

34

Sierra Leone

114

54

32

Mali

111

46

34

Nigeria

104

33

17

Benin

98

50

41

Demokratische Republik Kongo

94

52

48

Elfenbeinküste

92

53

23

Republik Niger

91

53

23

Globaler Durchschnittswert

41

43

40

Quelle: Weltbank und UNICEF, neueste Zahlen.

Tab. 2.2 Stillraten in Ländern mit der höchsten Neugeborenen- und Kindersterblichkeit, 20152.

Land

Anzahl der Todesfälle bei Neugeborenen(0–1 Monat, 2015)

Anzahl der Todesfälle bei Kindern (0–5 Jahre, 2015)

Frühes Stillen, % (0–1 Stunde)

Ausschließliches Stillen, % (0–6 Monate)

Indien

696 000

1 201 000

41

62

Nigeria

240 000

750 000

33

17

Pakistan

245 000

432 000

18

38

China

93 000

182 000

41

28

Demokratische Republik Kongo

94 000

305 000

52

48

Indonesien

74 000

147 000

49

42

Angola

53 000

169 000

55

Keine Daten

Sudan

39 000

89 000

73

55

Kenia

34 000

74 000

58

61

Philippinen

30 000

66 000

50

27

Quelle: UNICEF, 2015, und Weltbank, neueste Zahlen.

Obwohl die Stillraten in letzter Zeit in manchen Ländern gestiegen sind, wurden in den vergangenen 25 Jahren insgesamt nur zögerliche Fortschritte erzielt [23]. Von den 33 Ländern mit dem langsamsten Rückgang der Kindersterblichkeit weisen nur 4 eine Rate für ausschließliches Stillen über 50% auf – Burundi, Togo, Papua Neuguinea und Lesotho [24]. Die ausbleibende Steigerung der Stillrate in Ländern, die um eine Vermeidung der Kindersterblichkeit kämpfen, lässt darauf schließen, dass es noch großer Fortschritte in Bezug auf eine Verbesserung der Stillraten bedarf, um hinsichtlich der schwächsten Bevölkerungsgruppen Chancengleichheit zu erzielen. Dies gilt insbesondere für Länder mit extrem niedrigen Impfraten [25]. Um die positive Wirkung des Stillens zur Verbesserung der Chancengleichheit voll auszuschöpfen, sowohl national als auch international, muss die globale Entwicklungsgemeinschaft das Stillen vorrangig in den Bevölkerungsgruppen mit den niedrigsten absoluten Stillzahlen und den geringsten Fortschritten im Bereich des Stillens, mit der schwächsten Gesundheitsinfrastruktur und mit der höchsten Neugeborenen- und Kindersterblichkeit unterstützen.

2.4. Kosteneffizienz des Stillens

Wie viele andere Präventionsmaßnahmen, lohnen sich Investitionen in das Stillen in hohem Maße auch wirtschaftlich. Laut der Lancet-Fachartikelreihe zur Ernährung von Mutter und Kind aus dem Jahr 2013 schneidet die Förderung des Stillens im Vergleich zu anderen Ernährungsinterventionspaketen äußerst vorteilhaft ab. Zudem bietet sie das Potenzial, die Kindersterblichkeit um mehrere Hunderttausend Fälle zu senken. Hierbei betragen die jährlichen Kosten pro gerettetem Leben 175 USD. Von den 10 einzelnen im Lancet beurteilten Ernährungsinterventionen konnten lediglich durch die Behandlung schwerer akuter Mangelernährung und die präventive Zinksupplementierung mehr Leben gerettet werden als durch die Förderung des Stillens. Außerdem rettete aus einer Anzahl von insgesamt 4 Interventionspaket-Modellen nur die Behandlung akuter Mangelernährung bei geringeren Kosten mehr Leben als die Förderung des Stillens [26].

Ferner wurde in der Lancet-Fachartikelreihe zum Thema Neugeborene im Jahr 2014 berichtet, dass der Einfluss auf die Gesundheit des Neugeborenen und die Stilldauer umso größer ist, je früher Mütter nach der Geburt durch Unterstützungsleistungen für das Stillen erreicht werden. Laut der Fachartikelreihe verbessert sich die Rate für ausschließliches Stillen dank Aufklärung und Beratung unmittelbar am Tag nach der Geburt um 43% und im ersten Monat nach der Geburt um bis zu 30%. Auch die sogenannte Känguru-Methode zur Verbesserung der Gesundheit von Neugeborenen mit geringem Geburtsgewicht fördert das Stillen. Untersuchungen zeigen 1–4 Monate nach der Geburt einen Anstieg der Stillraten um 27% sowie eine längere Stilldauer. Wenn es laut diesen Forschungsarbeiten gelingt, dass Stillfördermaßnahmen 90% einer bestimmten Population erreichen, so könnten die Raten für ausschließliches Stillen bei Neugeborenen um 15% und bei Säuglingen im Alter von 1–5 Monaten um 20% steigen [27].

Trotz der nachgewiesenen Kosteneffizienz von Stillförderprogrammen waren die internationalen Entwicklungsausgaben für Stillprogramme nie besonders hoch. Im Vergleich zu anderen Bereichen der Gesundheitsprävention, vor allem Impfstoffe und mit Insektiziden behandelte Moskitonetze, sind diese Ausgaben seit den 1990er Jahren sogar auf ein derzeit historisch niedriges Niveau gesunken [28]. Einer der Gründe, weshalb die Kindersterblichkeit seit 1990 in so vielen Ländern erheblich zurückgegangen ist, besteht in den relativ hohen Investitionen in den Bereichen Impfstoffe und Malariaprävention [29]. Der Umstand, dass das Stillen zu der seit Formulierung der Millenniums-Entwicklungsziele erreichten Senkung der Kindersterblichkeit um 50% so wenig beigetragen hat, wirft eine entscheidende Frage auf: Hätten wir mit höheren Investitionen in Programme zur Förderung und Unterstützung des Stillens eine Senkung der Kindersterblichkeit um jene 66% erzielen können, die für das Erreichen von Ziel 4 erforderlich gewesen wären?

2.5. Niedrige Stillraten

Trotz der beträchtlichen positiven Auswirkungen des Stillens auf Gesundheit und Chancengleichheit und der Kosteneffizienz von Stillfördermaßnahmen unterschreiten die Stillraten in den meisten Ländern nicht nur die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO, sondern auch die von der Weltgesundheitsversammlung angestrebte Rate für ausschließliches Stillen in Höhe von mindestens 50% [14]. Die WHO empfiehlt eine frühe Aufnahme des Stillens innerhalb der ersten Stunde nach der Geburt, ein ausschließliches Stillen bis zu einem Lebensalter von 6 Monaten und eine Fortführung des Stillens bis zu einem Lebensalter von mindestens 2 Jahren. Weltweit werden nur knapp 40% der Säuglinge in den ersten 6 Monaten und 43% in der ersten Stunde nach der Geburt ausschließlich gestillt. Dies liegt deutlich unter den Reichweiten anderer Maßnahmen zur Förderung des Überlebens von Kindern, etwa Impfstoffe (86%), Vitamin A (72%) und qualifizierte Geburtshilfe (78%). Die angestrebte Rate für ausschließliches Stillen von 50% wird derzeit nur in 32 Ländern erreicht. In vielen Ländern, in denen eine hohe Neugeborenen- und Kindersterblichkeit zu beklagen ist, liegt die Rate weit unter 50%.

Die Fortschritte bei der Steigerung der viel zu niedrigen Stillraten liegen zudem hinter den Erfolgen in anderen Bereichen der globalen Gesundheit zurück. Laut Abschlussbericht zur Initiative Countdown to 2015 steigen die Raten für ausschließliches Stillen um lediglich 1 Prozentpunkt pro Jahr. Und in den meisten untersuchten Ländern ist der Anteil der Kinder, die im Alter zwischen 12 und 15 Monaten sowie zwischen 20 und 23 Monaten noch gestillt werden, sogar rückläufig. Infolgedessen konnte die Deckungslücke für das Stillen lediglich zu 13% geschlossen werden, womit die Fortschritte auf dem Gebiet des Stillens weit hinter jenen in den Bereichen Impfung, Malariaprävention und -behandlung, sauberes Trinkwasser und Reproduktionsgesundheit zurückbleiben.

Eine wichtige neue Analyse der Fortschritte im Bereich des Stillens findet sich im Welternährungsbericht 2015 [30]. Laut dieser Auswertung liegen nur 32 von 78 Ländern mit einer ausreichenden Datenlage zum Stillen auf Kurs, um den angestrebten Deckungsgrad von 50% zu erreichen. 10 Länder liegen nicht auf Kurs, erzielen aber Fortschritte, 30 Länder liegen nicht auf Kurs und erzielen auch keine Fortschritte und 6 Länder weisen stark rückläufige Raten auf (Kuba, Ägypten, die Mongolei, Nepal, die Türkei und Kirgisistan). Besonders besorgniserregend ist der Umstand, dass einige der Länder mit der höchsten Kindersterblichkeit zu denjenigen gehören, die nicht auf Kurs liegen (z. B. Nigeria, Pakistan, Äthiopien, Bangladesch, Tansania, Mosambik, Malawi, Kamerun und die Elfenbeinküste). Der Bericht beklagt die mangelnden Fortschritte bei den Stillraten und fordert dringende Maßnahmen, um der Erhebung von Stilldaten in den 115 Ländern Priorität einzuräumen, in denen sie fehlen.

Der Welternährungsbericht verweist aber auch – und stimmt damit hoffnungsvoll – auf Länder, die in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte im Bereich des Stillens erzielt haben. Hier ist insbesondere Indien zu nennen, das seine Rate für ausschließliches Stillen über einen Zeitraum von 8 Jahren verdoppelt hat (von 34% auf 62%). Auch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF und die Welt-Still-Trends-Initiative (World Breastfeeding Trends Initiative, WBTi) nennen mehrere Länder, in denen in letzter Zeit Fortschritte in Bezug auf das Stillen erreicht wurden. Einige der Länder, die dort am besten abschneiden, gehören laut Welternährungsbericht mittlerweile aber zur Gruppe derjenigen Länder, die nicht mehr auf Kurs sind [31]. Die große Bandbreite der Raten für ausschließliches Stillen (von 0% im Tschad bis 87% in Ruanda) gibt aber auch Anlass zu Optimismus, da sie zeigt, dass selbst unter den schwierigsten Bedingungen Fortschritte im Bereich des Stillens möglich sind.

2.6. Stillhindernisse

Neben den in den meisten Ländern nach wie vor zu niedrigen Stillraten besteht zugleich ein allgemein hoher Grad der Sensibilisierung für den Nutzen des Stillens, insbesondere unter Müttern. Wie sich in Befragungen immer wieder zeigt, wissen Frauen, dass Muttermilch das Beste für ihr Kind ist, und geben eine starke Präferenz für das Stillen an. Die große Diskrepanz zwischen der Präferenz der Frauen für das Stillen und den tatsächlichen Stillraten lässt darauf schließen, dass Frauen in den meisten Ländern mit erheblichen Stillhindernissen konfrontiert sind. Die Art dieser Hindernisse zu kennen und zu verstehen, wie sich diese in konkreten Kontexten auswirken und wie sie sich überwinden lassen, gehört zu den zentralen Herausforderungen im Bereich der Gesundheit und Entwicklung von Kindern.

Die vorliegenden nationalen Umfragen und wenigen internationalen Erhebungen zur Einstellung von Frauen zum Stillen belegen die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln im Stillverhalten. Eine Umfrage aus dem Jahr 2011 des Philips Centers for Health and Wellbeing in 7 Ländern zeigte, dass mehr als 90% der 4000 befragten Mütter gerne stillen wollten, aber nur eine Minderheit von ihnen in der Lage war, ihr Kind in den ersten 6 Monaten ausschließlich zu stillen [32]. Es wurde ein breites Spektrum von Hindernissen genannt: von einer subjektiv wahrgenommenen Milchinsuffizienz über Schmerzen und Beschwerden bis hin zur Wiederaufnahme der Berufstätigkeit und Bedenken, in der Öffentlichkeit zu stillen. Eine im Jahr 2014 von Lansinoh in 9 Ländern durchgeführte Untersuchung ergab, dass die Mehrheit der 13 000 befragten Mütter gerne ausschließlich stillen wollte, dies jedoch nicht tat. Als Hauptgründe gaben sie Schmerzen und Beschwerden, Zeitmangel, das Problem des Abpumpens am Arbeitsplatz sowie das Gefühl der Scham beim Stillen in der Öffentlichkeit an [33]. Außerdem haben Untersuchungen in mehreren Ländern mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen ergeben, dass bestimmte kulturelle Überzeugungen, etwa Kinder aus Gründen des „spirituellen Schutzes“ nicht mit Muttermilch zu ernähren, ein bedeutendes Hindernis für ausschließliches Stillen darstellen [34].

Zahlreiche nicht auf Befragungen beruhende Untersuchungen gehen von anderen Stillhindernissen aus, wobei hier vor allem die Vermarktung und Verfügbarkeit von Muttermilchersatzprodukten, insbesondere Säuglingsmilchnahrung, zu nennen wären [35]. Diese Studien, von denen viele von zivilgesellschaftlichen Organisationen durchgeführt wurden, weisen auf eine laxe Umsetzung des Internationalen Kodexes der WHO zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten als Haupthindernis hin. Sie argumentieren, dass Mütter durch aggressive Vermarktungsmethoden dazu gebracht werden, Säuglingsmilchnahrung als partiellen oder vollständigen Ersatz für das Stillen zu verwenden. Würden die Produzenten der Säuglingsmilchnahrung an einer Vermarktung gehindert, so die These der Studien, würde die Nachfrage nach Säuglingsmilchnahrung zurückgehen und die Stillrate steigen. Die Tatsache, dass so viele der 39 Länder, die den WHO-Kodex vollständig umgesetzt haben, derart niedrige Raten für ausschließliches Stillen aufweisen, legt allerdings nahe, dass die Vermarktung von Säuglingsmilchnahrung für sich genommen kein bedeutendes Stillhindernis darstellt. Die vollständige Umsetzung des Kodexes führt nicht zur Senkung der grundlegenden Nachfrage nach Muttermilchersatzprodukten.

Eine kürzlich durchgeführte Analyse zur Umsetzung des Kodexes verweist auf 4 Länder, in denen die Umsetzung des Kodexes beispielhaft gefördert wurde: Armenien, Botswana, Indien und Vietnam [36]. Laut Welternährungsbericht befindet sich jedoch nur eines dieser Länder (Vietnam) bezüglich der Steigerung der Stillraten auf Kurs. Mit dem Access to Nutrition Index [37] wurde im Jahr 2016 die Einhaltung des Kodexes durch 5 Konzerne (Danone, FrieslandCampina, Groupe Lactalis, Heinz und Nestlé) erstmals unabhängig beurteilt. Der Bericht gelangte zu dem Schluss, dass bedeutende Fortschritte erzielt werden könnten, wenn die WHO die unter den Kodex fallenden Produkte noch genauer festlegen und einige der im Kodex verwandten Begriffe präziser definieren würde, da diese von den Stakeholdern nicht einheitlich interpretiert wurden.

Wahrscheinlich wird die Nachfrage nach Alternativen zur Muttermilch eher durch die zahlreichen Hindernisse bestimmt, die in den Verbraucherbefragungen ermittelt wurden, als durch die Verfügbarkeit von Säuglingsmilchnahrung. Werden diese grundlegenden Hindernisse nicht ins Visier genommen, so könnte eine Beschränkung des Zugangs zu Säuglingsmilchnahrung sogar dazu führen, dass vermehrt auf andere Ersatzstoffe (z. B. Wasser, Tiermilch, Tee und Nahrungsmittel) zurückgegriffen wird oder die Säuglinge insgesamt weniger gestillt werden. Es gibt eine Reihe von starken Faktoren, etwa die Zunahme von weiblichen Arbeitskräften und die Geschlechtergleichstellung, die die Stillraten nach unten drücken. Im Zuge der Entwicklung eines Landes ist damit zu rechnen, dass diese Faktoren im Gegensatz zu den meisten anderen Gesundheitsindikatoren sogar noch stärker werden. Es kann also angenommen werden, dass die Stillraten trotz gezielter Maßnahmen mit der Entwicklung eines Landes weiter sinken. Die Mehrheit der führenden 10 Länder im Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) weist extrem niedrige Raten für ausschließliches Stillen auf [38].

2.7. Kollektives Versagen bei Gegenmaßnahmen

Es haben sich nur wenige Programme systematisch mit den verschiedenen Gründen beschäftigt, die Frauen vom Stillen abhalten, obwohl seit der von 30 Regierungen und mehreren UN-Organisationen im Jahr 1990 unterzeichneten Innocenti-Deklaration zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens [39] verschiedene spezielle Initiativen ins Leben gerufen wurden und zahlreiche Berichte vorliegen, die den Nutzen des Stillens unterstreichen. Dies gilt insbesondere für Bevölkerungsgruppen, in denen das Stillen die Überlebenschancen von Neugeborenen und Kindern erheblich steigern könnte. Eine für UNICEF durchgeführte unabhängige Analyse gipfelte in einem wegweisenden Bericht mit dem Titel Breastfeeding on the Worldwide Agenda (Stillen auf der weltweiten Agenda). Der Bericht stufte die Stilllandschaft als „reich an politischen Konzepten, aber schwach in der Umsetzung“ ein und forderte Sofortmaßnahmen, um die „symbolische Aufmerksamkeit, die dem Stillen oftmals zuteil wird, zu einer bindenden Verpflichtung zu machen, mit dem Ziel, ein umfassendes Paket von breit angelegten Gesundheits- und Ernährungsinterventionen vorzulegen“ [40].

Die wenigen hohen Investitionen in Stillprogramme, insbesondere das von der US Agency for International Development (USAID) finanzierte Projekt LINKAGES (1996–2006) [41] sowie das von der Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung finanzierte Programm Alive & Thrive (2009–2015) [42], belegen, dass ein erheblicher Anstieg der Raten für ausschließliches Stillen erreichbar ist, wenn gleichzeitig verschiedene Stillhindernisse abgebaut werden. Besonders beachtenswert sind die Ergebnisse des Programms Alive & Thrive in Bangladesch und Vietnam, wo die Rate für ausschließliches Stillen in Bevölkerungen mit Millionen von Frauen von 49 auf 86% bzw. von 19 auf 63% angestiegen ist. Ob sich dieser beeindruckende Anstieg langfristig fortsetzt, bleibt abzuwarten, und der an mehreren LINKAGES-Standorten nach Ende des Programms verzeichnete Rückgang der Rate für ausschließliches Stillen mahnt zur Vorsicht. Nichtsdestotrotz bestätigen die Ergebnisse dieser Programme das Breastfeeding-Gear-Modell, demzufolge erfolgreiche Programme zur Stillförderung wie ein „gut geölter Motor” funktionieren sollten, bei dem mehrere Teile synchron und aufeinander abgestimmt arbeiten [43].

Der Erfolg von Programmen wie Alive & Thrive macht deutlich, dass Entwicklungsorganisationen für eine substanzielle Beinflussung der Stillraten mehr tun müssen, als Projekte zur Stillförderung und auf einzelne Stillhindernisse abzielende Initiativen aufzulegen. Angesichts der Vielzahl von neuen politischen Konzepten und Initiativen zur Unterstützung des Stillens, darunter der Every Newborn Action Plan [44], die neue Global Strategy for Women’s, Children’s and Adolescents’ Health [45], die Initiative Scaling-up Nutrition (SUN) und das neue Global Breastfeeding Collective – unterstützt von UNICEF und WHO und finanziert von der Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung – ist die Zeit nun reif für große, internationale Investitionen, mit denen die politischen Konzepte umgesetzt werden und diese Projekte ihre Tätigkeit aufnehmen können. Von besonderer Bedeutung wird es sein, Neugeborene gezielt in den Mittelpunkt solcher Programme zu stellen, da diese von den bisherigen Initiativen zur Stillförderung kaum profitiert haben. Und dies obwohl bekannt ist, dass durch eine Förderung, insbesondere des frühen Stillens, jedes Jahr potenziell Hunderttausende von Todesfällen bei Neugeborenen vermieden werden könnten [46]. Tragisch ist dabei vor allem, dass die Projekte zur Verbesserung des Zugangs von Säuglingen zu Muttermilch oder Spenderinnenmilch über Muttermilchbanken von AkteurInnen im Entwicklungsbereich bis dato gerade nicht gezielt auf jene Babys ausgerichtet waren, die am meisten von Muttermilch profitieren könnten, d. h. kranke und gefährdete Neugeborene. Bei der WHO-Initiative Babyfreundliches Krankenhaus (Baby Friendly Hospital) standen niemals kranke und gefährdete Neugeborene im Fokus.

Dass es sämtliche AkteurInnen im Entwicklungsbereich, von Regierungen über Unternehmen bis hin zur Zivilgesellschaft, auf breiter Ebene versäumt haben, ausreichende Geldmittel für die Beseitigung oder Verringerung der gesamten Palette an Stillhindernissen bereitzustellen, übt nun in den meisten Ländern zusätzlichen Abwärtsdruck auf die Stillraten aus. Mit den nun vorhandenen Unterstützungsplattformen, die umfassende Mittel für Ernährungsprogramme zur Verfügung stellen können, wie etwa die Global Financing Facility in Support of Every Woman, Every Child, der Power-of-Nutrition-Fonds sowie der Nutrition for Growth Summit 2016, stehen die AkteurInnen nun vor der entscheidenden Aufgabe, einen angemessenen Anteil dieser Mittel für hoch effiziente Projekte zur Förderung des Stillens zu sichern.

2.8. Finanzielle Förderung von Innovationen im Bereich des Stillens

Vorrangig geht es nun darum, überzeugende und förderungswürdige Projekte zu ermitteln. Diese sollten eine Steigerung der Raten für frühes und ausschließliches Stillen in Ländern ermöglichen, in denen sich dies unmittelbar in besseren Überlebenschancen von Neugeborenen und Kindern, aber auch in einer Senkung der Gesundheitskosten und Stärkung des Wirtschaftswachstums niederschlägt. Am vielversprechendsten dürften solche Lösungen sein, mit denen sich ein oder mehrere Stillhindernisse beseitigen lassen und mit denen Kostensteigerungen eingedämmt werden können, denen Frauen in sich entwickelnden Ländern ausgesetzt sind. Die förderungswürdigsten Innovationen werden nachweislich (a) bei Haus- und Krankenhausgeburten einen frühen Stillbeginn innerhalb der ersten Stunde nach der Geburt fördern, (b) gewährleisten, dass selbst die am stärksten gefährdeten Neugeborenen Zugang zu Muttermilch haben, (c) das Selbstvertrauen der Frauen hinsichtlich der Eignung ihrer Muttermilch stärken, (d) Schmerzen und Beschwerden durch das Stillen verringern und die Stilltechnik verbessern, (e) den Zeitdruck beim Stillen reduzieren, insbesondere durch den Ausbau von bezahltem Elternurlaub und (f) Arbeitsplätze, häusliche und öffentliche Umgebungen schaffen, die stillfreundlich sind.

Spezifische Innovationen für jede dieser Kategorien sind bspw. finanzielle und nicht finanzielle Anreize für einen frühen Stillbeginn zu Hause und im Krankenhaus in Form von Direktzahlungen an Mütter und/oder spezielle Einrichtungen zur Erhöhung der Raten für frühes Stillen. Ein breiter Zugang zu Spenderinnenmilch für gefährdete Neugeborene könnte über ein Netzwerk von regulierten Muttermilchbanken in speziellen Einrichtungen und auf kommunaler Ebene geschaffen werden [47]. Es könnten neue individuelle Maßnahmen der Muttermilchversorgung entwickelt werden, bei denen die Milchbildung der einzelnen Frau medizinisch beurteilt wird, um deren Selbstvertrauen in den ersten Wochen und Monaten zu stärken und ihr zu vermitteln, dass Ersatznahrung nicht erforderlich ist [48]. Für den Fall, dass doch Substitute notwendig sein sollten, könnte über Muttermilchbanken Spenderinnenmilch zur Verfügung gestellt werden. Ein direkter Kontakt zu StillberaterInnen von zu Hause aus über eine Smartphone-App könnte die betroffenen Mütter bei Problemen mit der Stilltechnik oder bei Schmerzen unterstützen. Der Zugang zu bezahlbaren, bedienungsfreundlichen Milchpumpen der neueren Generationen, die speziell für einkommensschwache Familien entwickelt wurden, könnte den Zeitdruck reduzieren, unter dem viele Frauen leiden. Daneben könnten neue Verfahren der Pasteurisierung die Haltbarkeit abgepumpter Muttermilch ohne Kühlung verlängern.

Ein neues System von positiven und negativen Anreizen für Arbeitgeber könnte dafür sorgen, dass regelmäßige Stillpausen und speziell ausgestattete Räume zum Abpumpen und Aufbewahren von Muttermilch am Arbeitsplatz zum Standard werden [49]. Noch effektiver kann die Säuglingsbetreuung vor Ort sein, bei der Mütter ihre Babys während der Arbeit tatsächlich stillen können. Im öffentlichen Raum könnten staatlich finanzierte Stillräume oder „Pods“ (Kapseln) in oder bei öffentlichen Gebäuden (z. B. Schulen, Verkehrsknotenpunkten und Bibliotheken) eingerichtet werden. Soziale Unternehmen könnten über ein Franchising-Konzept Frauen tagsüber einen privaten Stillraum zur Verfügung stellen, sogar gegen eine geringe Gebühr, vergleichbar mit den sanitären Einrichtungen, wie man sie in vielen Ballungsräumen Afrikas und Südasiens findet [50]. Solche Arbeitsplatzinnovationen könnten in Kombination mit einer Verlängerung des bezahlten Elternurlaub, einen entscheidenden Einfluss auf die Stillraten haben.

Im Jahr 2015 wurde das Breastfeeding-Innovations-Team zur Stärkung der Innovationspipeline im Bereich Stillen gebildet. Das Team umfasst ein weltweites Netzwerk von über 200 Organisationen und Einzelpersonen. Diese setzen sich dafür ein, die Entwicklung und Einführung der vielversprechendsten Innovationen voranzubringen, mit denen sich der Zugang von Babys, insbesondere der schwächsten, zu Muttermilch verbessern lässt. Das Team unterstützt die durch den UN-Generalsekretär lancierte Strategie Every Woman, Every Child, den Every Newborn Action Plan und die Global Breastfeeding Advocacy Initiative. Weitere Gruppen wie diese, die in der Lage sind, eine Vielzahl von InnovatorInnen im Bereich Muttermilch unter einem Dach zu vereinen und Unterstützung von InvestorInnen zu mobilisieren, werden von entscheidender Bedeutung sein.

2.9. Stillhindernisse überwinden: ein Aufruf zum Handeln

Um den größtmöglichen Anstieg der Stillraten erzielen zu können, müssen Innovationen vor allem Müttern in Hochrisikoumfeldern zugute kommen. Dies gilt insbesondere für die Bevölkerung in afrikanischen Ländern südlich der Sahara und in Südasien, in denen eine Steigerung der Stillraten dazu führen könnte, dass sich die Überlebenschancen von Neugeborenen und Kindern dem internationalen Durchschnitt annähern würden. Da sich die spezifischen Stillhindernisse zwischen den Bevölkerungsgruppen unterscheiden, müssen Innovationen sehr stark auf den jeweiligen Kontext zugeschnitten sein. Dementsprechend sollten AkteurInnen im Entwicklungsbereich mit Organisationen zusammenarbeiten, die in der Lage sind, die erforderlichen Innovationen im Rahmen einer neuen Multi-Stakeholder-Partnerschaft mit einer zentralen Zielsetzung zu entwickeln: die Raten für frühes und ausschließliches Stillen in solchen Bevölkerungsgruppen drastisch zu steigern, in denen eine höhere Stillrate optimal zu den nationalen Zielen im Bereich Kindergesundheit beitragen kann.

Eine solche Partnerschaft würde die Kräfte zur Überwindung von Stillhindernissen sämtlicher UN-Organisationen sowie aller zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Initiativen bündeln, die zur Steigerung der Stillrate in der Gesamtbevölkerung der folgenden 15 Länder beitragen könnten: Indien, Nigeria, Pakistan, China, Demokratische Republik Kongo, Indonesien, Elfenbeinküste, Sudan, Kenia, Philippinen, Tschad, Somalia, Zentralafrikanische Republik, Sierra Leone und Mali. Diese AkteurInnen könnten in Zusammenarbeit mit nationalen, regionalen und kommunalen Regierungsbehörden die Haupthindernisse für das Stillen in denjenigen Bevölkerungsgruppen ermitteln, die am stärksten von Neugeborenen- und Kindersterblichkeit betroffen sind, und im Anschluss daran integrierte Strategien entwickeln, um die Hindernisse über einen 10-jährigen Zeitraum systematisch zu reduzieren oder ganz zu beseitigen. Dabei könnte die Partnerschaft Mechanismen, die den Regierungen (Gesetzgebung, Steuer- und Transfersysteme sowie Bereitstellung von Direktdiensten), Unternehmen (Vermarktung, Beschäftigungspolitik, Produktgestaltung und Direktversorgung) und der Zivilgesellschaft (Interessengruppen, Bereitstellung von Direktdiensten und soziale Mobilisierung) zur Verfügung stehen, in ihrer Hebelwirkung vollständig ausschöpfen, um konkrete Stillhindernisse abzubauen.

Die Partnerschaft könnte durch Gelder von Regierungen, Vereinten Nationen, Unternehmen und Zivilgesellschaft mit Unterstützung durch namhafte Plattformen wie der Globalen Finanzierungsfazilität gemeinschaftlich mit Mitteln ausgestattet werden. Öffentlichkeitswirksame Plattformen wie die Strategie Every Woman, Every Child des UN-Generalsekretärs könnten sich für die Initiative engagieren. Die Partnerschaft könnte auf den Erfahrungen aus den erfolgreichsten Programmen zur Stillförderung, insbesondere Alive & Thrive, und auf dem Engagement von Initiativen wie Scaling-up Nutrition aufbauen, in denen sich bereits zahlreiche PartnerInnen – darunter eine starke Gruppe von Unternehmen – gemeinschaftlich für eine Steigerung der Stillraten einsetzen [29].

2.10. Das Stillen vor dem Hintergrund der Ziele für nachhaltige Entwicklung

Im September 2015, als die Ziele für nachhaltige Entwicklung durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurden, änderte sich das weltpolitische Umfeld im Bereich der öffentlichen Gesundheit grundlegend. Bei dieser historischen Zusammenkunft verpflichteten sich 194 Regierungen, bis zum Jahr 2030 insgesamt 17 der ehrgeizigsten jemals formulierten Entwicklungsziele umzusetzen, darunter 2 Ziele, die sich unmittelbar auf das Stillen beziehen [51]:

  • Ziel 2: den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern

  • Ziel 3: ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern

Es ist besorgniserregend, dass das aktuelle Ziel der Weltgesundheitsversammlung in Bezug auf das Stillen – eine Rate für ausschließliches Stillen von 50% bis zum Jahr 2025 – weniger ambitioniert ist als die Nachhaltigkeitsziele und weit hinter den Zielen für andere lebensrettende Maßnahmen zurückbleibt. Erstens wird die angestrebte Rate von 50% in den 34 Ländern, in denen die Raten bereits über 50% liegen, keine weiteren Zuwächse anstoßen. Und zweitens werden sich die Stillraten nicht auf ein Niveau steigern lassen, das erforderlich wäre, um in unterdurchschnittlich abschneidenden Ländern optimale Auswirkungen auf die Überlebenschancen von Neugeborenen und Kindern zu erzielen.

Die Welt braucht ambitionierte Ziele, um Maßnahmen zur bestmöglichen Förderung der Gesundheit und Entwicklung von Neugeborenen und Kindern umzusetzen, auch in Bezug auf das Stillen. Die vorliegenden Daten rechtfertigen in Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeit eine Zielrate von 100% für einen frühen Stillbeginn und von 80% für ausschließliches Stillen in den ersten 6 Monaten. Darüber hinaus werden spezifische Indikatoren benötigt, mit denen sich die Umsetzung der beiden Ziele verfolgen lässt, um Regierungen und AkteurInnen im Entwicklungsbereich für Fortschritte im Bereich des Stillens in die Verantwortung nehmen zu können. Ohne ehrgeizige Ziele und Indikatoren für das Stillen läuft die Weltgemeinschaft Gefahr, mit der Steigerung der Stillraten weiterhin im Rückstand zu bleiben und den potenziellen Beitrag des Stillens zur Erreichung der globalen Gesundheitsziele nicht optimal auszuschöpfen.

Mit ehrgeizigeren Zielen werden neue Strategien erforderlich, um die Stillraten auf historisch hohe Werte – zumindest seit Beginn des Industriezeitalters – anzuheben. In diesem neuen Kontext werden ständig Lösungen von neuen AkteurInnen angeboten. Ihre Wirkung wird dadurch bestimmt, inwieweit Regierungen, die UNO, Unternehmen und die Zivilgesellschaft in der Lage sein werden, in breit aufgestellten Partnerschaften auf der Grundlage von gemeinsamen Werten und Synergieeffekten zusammenzuarbeiten. Übergeordnetes Ziel aller Parteien sollte es sein, eine Welt zu schaffen, in der Mütter die Freiheit haben, zu stillen, und gezielt gestärkt werden, um Fortschritte im Bereich des Stillens zu ermöglichen. Dazu gehört auch, Stillhindernisse durch ständige Innovationen systematisch zu überwinden. Denn genau dies wird letztendlich eine nachhaltige Steigerung der Stillraten ermöglichen: wenn sich Frauen überall auf der Welt frei für die Ernährung ihres Babys mit Muttermilch entscheiden können.

Kernpunkte

  • Über die Muttermilch erhält der Säugling in den ersten 6 Lebensmonaten die gesamte Nahrung, die er benötigt. Sie reduziert das Erkrankungs- und Sterberisiko im Säuglingsalter erheblich und trägt zu einer gesunden Entwicklung bis weit in die frühe Kindheit und darüber hinaus bei.

  • Das Stillen gehört zu den am wenigsten genutzten Strategien zur Verbesserung der Chancengleichheit hinsichtlich der Kindesgesundheit. Mit keiner anderen einzelnen Gesundheitsmaßnahme lassen sich gesundheitliche Ungleichheiten ebenso stark verringern und die Neugeborenen- und Kindersterblichkeit ebenso stark senken wie durch das Stillen.

  • Das Stillen ist mit geschätzten Kosten in Höhe von 175 USD pro gerettetem Leben eine kosteneffiziente Investition in die Gesundheit und Entwicklung von Kindern. Die Förderung des Stillens schneidet im Vergleich mit anderen ernährungsbezogenen Maßnahmenpaketen günstig ab.

  • Was das Stillen betrifft, gibt es eine erhebliche Kluft zwischen Wissen und Handeln. Frauen scheinen sich über den Nutzen des Stillens durchaus im Klaren zu sein, sehen sich jedoch häufig mit großen Hindernissen konfrontiert: von der subjektiven Wahrnehmung, zu wenig Milch zu haben, über Schmerzen und Beschwerden bis hin zur Wiederaufnahme der Berufstätigkeit und Bedenken, in der Öffentlichkeit zu stillen.

  • Um höhere Stillraten zu erzielen, müssen sich Programme zur Stillförderung weg von punktuellen Initiativen hin zu internationalen Multi-Stakeholder-Partnerschaften entwickeln.

  • Die derzeitigen globalen Ziele in Bezug auf die Stillraten sind mit den ambitionierten Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen nicht vereinbar.

Leith Greenslade, MPP, MBA ist die Gründerin und Vorsitzende des Breastfeeding Innovations Teams und CEO der JustActions LLC, New York. Sie war als stellvertretende Vorsitzende der MDG Health Alliance, einer speziellen Initiative des UN-Sondergesandten für die Finanzierung der globalen Gesundheitsziele, tätig und leitete als solche Projekte zur Förderung der Kindergesundheit. Außerdem war sie Mitglied des US-Vorstands der öffentlich-privaten Partnerschaft Gavi (the Vaccine Alliance), und in verschiedenen Positionen für die australischen Regierung tätig, u. a. für den stellvertretenden Premierminister und Gesundheitsminister, den Oppositionsführer und den Minister für soziale Sicherheit und die Stellung der Frau im Schattenkabinett.

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