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22 Scaling-up von Programmen zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens

Published onJul 01, 2018
22 Scaling-up von Programmen zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens
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22 Scaling-up von Programmen zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens


Rafael Pérez-Escamilla, PhD

Zentrale Lerninhalte

  • Definition des Scaling-up von Stillprogrammen

  • Voraussetzungen für ein erfolgreiches Scaling-up von Stillprogrammen

  • Bedeutung der Implementierungsforschung für ein erfolgreiches Scaling-up von Programmen zum Schutz, zur Förderung und Unterstützung des Stillens

22.1. Einführung

Praktiken der Säuglings- und Kleinkindernährung (Infant and Young Child Feeding, IYCF) haben nicht nur großen Einfluss auf den Ernährungszustand von Kindern unter 2 Jahren, sondern auch auf ihr Infektions- und Sterberisiko [1]. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, innerhalb von 1 Stunde nach der Geburt mit dem Stillen zu beginnen, in den ersten 6 Lebensmonaten ausschließlich zu stillen und dann sichere, nährstoffreiche Beikost einzuführen und begleitend weiter zu stillen, bis das Kind mindestens 2 Jahre alt ist [1]. Diese WHO-Leitlinien stützen sich auf eine solide Evidenzbasis. Demnach besteht ein starker Zusammenhang zwischen optimalen Stillpraktiken und einer niedrigeren Inzidenz von Magen-Darm- und Atemwegsinfektionen sowie höheren Überlebensraten [2]. Darüber hinaus kann das Stillen die Kinder vor Mittelohrentzündung [3], Kieferfehlstellung [4], Karies [5], Adipositas und Typ-2-Diabetes schützen [6]. Außerdem wird Stillen konsistent mit einer verbesserten kognitiven Entwicklung assoziiert [7]. Der Nutzen des Stillens für die Mutter besteht in einer verlängerten Laktations-Amenorrhö und einem verminderten Risiko von postpartalen Blutungen, Eierstock- und Brustkrebs sowie Typ-2-Diabetes [8]. Es überrascht daher nicht, dass die von der WHO herausgegebene Globale Strategie zur Säuglings- und Kleinkindernährung ein starkes staatliches Engagement für den Schutz, die Förderung und die Unterstützung des Stillens fordert [9] und von Gesundheitsbehörden nach wie vor ausdrücklich befürwortet wird. In den Zielen für nachhaltige Entwicklung 2015–2030 der Vereinten Nationen wird als eines der zentralen globalen Ernährungsziele die Steigerung der Prävalenz des ausschließlichen Stillens in den ersten 6 Monaten auf mindestens 50% genannt [10].

Obwohl dieses Ziel, die Raten für ausschließliches Stillen in den ersten 6 Monaten zu erhöhen, seit fast 15 Jahren global existiert und von internationalen Organisationen und Regierungen weltweit nachdrücklich befürwortet wird, werden bisher weniger als 40% aller Säuglinge unter 6 Monaten ausschließlich gestillt. Diese Raten schwanken innerhalb der Weltregionen stärker als zwischen den Regionen (Abb. 22‑1). Laut repräsentativen nationalen Umfragen aus dem Zeitraum 2008–2014 bewegen sich die Raten des ausschließlichen Stillens bei Kindern im Alter von unter 6 Monaten in einem Bereich von 27% in West- und Zentralafrika bis zu 56% in Ost- und Südafrika [11].

Abb. 22.1

Abb. 22.1 Prävalenz des ausschließlichen Stillens bei Säuglingen im Alter von < 6 Monaten, weltweit und nach Weltregionen. (UNICEF Global Database, 2015)

Es ist bemerkenswert, wie unterschiedlich die Prävalenz des ausschließlichen Stillens in den einzelnen Ländern ist – Daten aus Umfragen im Zeitraum 2000–2014 in 128 Ländern belegen eine große Bandbreite auf Landesebene, von 1% in Dschibuti bis 87% in Ruanda [11]. Eine wichtige Frage lautet daher, weshalb die Prävalenz des ausschließlichen Stillens zwischen den unterschiedlichen Ländern der Welt so stark schwankt. Liegt es daran, dass wir einfach nicht genug darüber wissen, wie das ausschließliche Stillen wirksam unterstützt werden kann? Oder gibt es wesentliche Engpässe, die der Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis entgegenstehen?[12], [13].

Es verwundert, dass die Steigerung der Raten für ausschließliches Stillen auf das empfohlene Niveau global betrachtet nicht vorangeht. Schließlich gibt es seit Jahrzehnten evidenzbasierte Initiativen innerhalb von Krankenhäusern und Gemeinwesen, mit denen sich die Raten nachweislich wirksam steigern lassen. Auch haben Fallstudien in einigen Ländern gezeigt, dass sich die Stillraten nach einem Scaling-up solcher Initiativen recht schnell deutlich verbessern [13], [14], [15]. Auch wenn der schleppende Fortschritt in der Vergangenheit zum Teil schlicht auf einen fehlenden politischen Willen zurückgeführt wurde, ist zwischenzeitlich zunehmend deutlich geworden, dass die Antwort wesentlich komplizierter ist. Es müssen viele miteinander verknüpfte Faktoren auf komplexe Weise interagieren, damit die Bemühungen zur Steigerung der Rate des ausschließlichen Stillens Erfolg haben [13], [16].

In diesem Kapitel geht es darum, die wesentlichen Komponenten für ein erfolgreiches Scaling-up von staatlichen Programmen zur Förderung des ausschließlichen Stillens zu ermitteln. Dies ist für Gesundheit und Wohlbefinden von Müttern und Kindern weltweit von weitreichender Bedeutung. Durch die Steigerung der Raten für ausschließliches Stillen lassen sich Schätzungen zufolge Millionen von Menschenleben retten und auch erhebliche Kosten einsparen [12], [17], [18], [19]. Colchero et al. nahmen vor kurzem eine Kostenschätzung für Mexiko vor. Demnach verursachten suboptimale Stillpraktiken und damit verbundene pädiatrische Erkrankungen – Atemwegsinfektionen, Mittelohrentzündung, Gastroenteritis und nekrotisierende Enterokolitis (NEC) sowie Fälle von plötzlichem Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome, SIDS) – Kosten in Höhe von 745,6 Millionen bis 2,4 Milliarden USD. Hiervon entfielen 11–38% allein auf industriell hergestellte Säuglingsmilchnahrung [20]. Diese Schätzung der wirtschaftlichen Kosten des suboptimalen Stillens umfasst neben den direkten Gesundheitsversorgungskosten infolge des erhöhten Krankheitsrisikos von Kindern, die bis zum Alter von 6 Monaten nicht ausschließlich oder im Alter zwischen 6 und 11 Monaten gar nicht gestillt werden, auch entgangene zukünftige Einnahmen aufgrund vorzeitiger Todesfälle sowie die Kosten des Erwerbs von industriell hergestellter Säuglingsmilchnahrung. Die Zahl der jährlichen Krankheitsfälle, die auf mangelhafte Stillpraktiken zurückzuführen sind, lag zwischen 1,1 und 3,8 Millionen und die Zahl der Todesfälle unter Säuglingen zwischen 933 und 5.796 pro Jahr. Dies entspricht knapp 27% der gesamten Krankheits- und Todesfälle, die im Rahmen der untersuchten Krankheiten überhaupt aufgetreten sind [20].

Laut einer kürzlich erfolgten Schätzung von Bartick & Reinhold könnten jährlich 13 Milliarden USD eingespart werden, wenn 90% der Familien in den USA der Empfehlung folgen würden, 6 Monate lang ausschließlich zu stillen. Darüber hinaus könnten 911 zusätzliche Todesfälle verhindert werden, die weitaus meisten davon im Säuglingsalter [21]. In der Kostenschätzung berücksichtigt wurden NEC, Mittelohrentzündung, Gastroenteritis, stationär behandelte Infektionen der unteren Atemwege, atopische Dermatitis, SIDS, kindliches Asthma, Leukämie im Kindesalter, Diabetes mellitus Typ 1 sowie Adipositas im Kindesalter [21]. Bartick et al. nahmen unlängst auch eine Schätzung der Kosten des suboptimalen Stillens in den USA im Hinblick auf die Gesundheit der Mütter vor [22]. Ihre Analyse der derzeitigen Stillraten in den USA hat ergeben, dass das suboptimale Stillen gegenüber dem optimalen Stillen mit 4981 zusätzlichen Fällen von Brustkrebs, 53847 Fällen von Bluthochdruck und 13946 Fällen von Herzinfarkt verbunden war. Dabei verursachte das suboptimale Stillen gesellschaftliche Gesamtkosten in Höhe von 17,4 Milliarden USD infolge vorzeitiger Todesfälle (95-%-Konfidenzintervall [KI]: 4,4–24,7 Milliarden USD), 733,7 Millionen USD an direkten Kosten (95-%-KI: 612,9–859,7 Millionen USD) und 126,1 Millionen USD an indirekten Krankheitskosten (95-%-KI: 99,00–153,22 Millionen USD) [22].

Da somit einerseits klar ist, dass das Problem der weltweit suboptimalen Prävalenz des ausschließlichen Stillens dringend angegangen werden muss, und wir andererseits wissen, wie man Frauen beim ausschließlichen Stillen bestmöglich unterstützen kann [13], sollen in diesem Kapitel primär Schlüsselelemente für ein efolgreiches Scaling-up von Stillprogrammen beschrieben werden. In diesem Kapitel werden Grundbegriffe und Rahmenkonzepte vorgestellt. Die wichtigsten Bausteine für ein erfolgreiches Scaling-up werden im Einzelnen beschrieben. Anschließend werden noch Ansätze und Instrumente vorgestellt, die politische EntscheidungsträgerInnen bei ihren Scaling-up-Bemühungen nutzen können. Zum Schluss wird erörtert, inwiefern die politischen Instrumente noch verbessert werden müssen und wie die Zukunftsaussichten in diesem Bereich aussehen.

22.2. Grundprinzipien für ein Scaling-up von Stillprogrammen

Weltweit besteht ein breiter Konsens, dass ein Scaling-up des Schutzes, der Förderung und der Unterstützung des Stillens von den Grundsätzen geleitet sein sollte, die in der Globalen Strategie zur Säuglings- und Kleinkindernährung (IYCF) dargelegt sind [9]. Die Globale Strategie umfasst 9 operative Ziele, die sich sowohl auf das Stillen als auch auf das Zufüttern von Beikost beziehen. Die ersten 4 fußen auf den operativen Zielen der Innocenti-Deklaration aus dem Jahr 1990 über den Schutz, die Förderung und die Unterstützung des Stillens [23]. Die in dieser Erklärung skizzierten Grundsätze sind hoch relevant, da sie auch von der Weltgesundheitsversammlung (WHA) übernommen wurden. In deren Resolution WHA44.33 von 1991 werden sie als „Grundlage für die internationale Gesundheitspolitik und -praxis“ zur Umsetzung der empfohlenen IYCF-Praktiken bezeichnet. Diese 4 Grundsätze zielen unmittelbar auf ein Scaling-up von nationalen Stillprogrammen ab und fordern Folgendes:

  • Ernennung einer nationalen Stillkoordinatorin bzw. eines nationalen Stillkoordinators und Einrichtung eines multisektoralen nationalen Stillkomitees

  • sicherstellen, dass jede geburtshilfliche Einrichtung die „10 Schritte zum erfolgreichen Stillen“ vollständig einhält

  • Implementierung und Durchsetzung des Internationalen Kodexes für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten (WHO-Kodex) [24]

  • Erlass von geeigneten Gesetzen zum Schutz der Stillrechte berufstätiger Frauen

Die weiteren 5 Ziele der Globalen Strategie betreffen Aspekte des Stillens und der Beikostfütterung, u.a. im Hinblick auf die besonderen Bedürfnisse von sehr vulnerablen Kindern und deren Familien (z. B. bei HIV-Infektion oder in humanitären Notsituationen). Aus diesen 5 Zielparametern werden folgende Forderungen abgeleitet:

  • Entwicklung, Umsetzung, Monitoring und Evaluierung einer umfassenden politischen Strategie für die Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern

  • sicherstellen, dass der Gesundheitssektor und andere relevante Bereiche das ausschließliche Stillen während der ersten 6 Monate und das fortgesetzte Stillen bis zum Alter von 2 Jahren oder darüber hinaus schützen, fördern und unterstützen

  • Förderung einer zeitgerechten, geeigneten, sicheren und angemessenen Einführung von Beikost bei fortgesetztem Stillen

  • Anleitung bei der Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern unter außergewöhnlich schwierigen Umständen und

  • Erwägung von neuen Gesetzen und anderen Maßnahmen, um die Prinzipien und Ziele des WHO-Kodexes umzusetzen

Dieses Kapitel möchte außerdem ausdrücklich darauf hinweisen, dass internationale Organisationen in der Innocenti-Deklaration zu Folgendem aufgerufen werden:

  • Ausarbeitung von Handlungsstrategien zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens, einschließlich eines globalen Monitorings und einer Evaluation der entwickelten Strategien

  • Unterstützung nationaler Situationsanalysen und anderer Erhebungen sowie der Entwicklung von nationalen Zielen und Vorgaben

  • Bestärkung und Unterstützung der nationalen Behörden bei der Planung, der Umsetzung, dem Monitoring und der Evaluation ihrer Stillpolitik [23]

Diese Handlungsempfehlungen haben sich im Lauf der Zeit als Schlüssel für ein erfolgreiches Scaling-up von Stillprogrammen bewährt, wobei sich der Schwerpunkt inzwischen darauf verlagert hat, dass die einzelnen Länder selbst die Verantwortung für diese Programme übernehmen und bei der Umsetzung weniger auf Hilfe aus dem Ausland zurückgreifen [13].

22.3. Schlüsselkonzepte für ein Scaling-up nationaler Stillprogramme

22.3.1. Schutz, Förderung und Unterstützung des Stillens

Die weltweite Erfahrung spricht eindeutig dafür, dass optimale Stillpraktiken das Ergebnis von stark aufeinander abgestimmten Maßnahmen zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens sind [13], [14], [15], [25], [26]. Mit Schutz sind hierbei politische Rahmenbedingungen gemeint, die es Frauen ermöglichen, ihr Recht auf das Stillen ihrer Kinder auszuüben, wenn sie es möchten. Zu diesen Schutzichtlinien zählen z.B. die Umsetzung des WHO-Kodexes für die ethische Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten [24], ein gesetzlich geregelter, angemessen bezahlter Mutterschaftsurlaub, Stillpausen während der Arbeitszeit [27] sowie der Schutz vor Belästigung beim Stillen im öffentlichen Raum. Die Förderung umfasst alle möglichen Aktivitäten, mit denen der Nutzen des Stillens bekannt gemacht und beworben wird – von der Weltstillwoche über die Nutzung von Massenmedien einschließlich der sozialen Medien (z. B. Facebook, Twitter, Blogs) bis hin zu Kommunikationskampagnen für Verhaltensänderungen [25]. Mit Unterstützung sind Maßnahmen gemeint, die Frauen darin bestärken, ihre Entscheidung für das Stillen umzusetzen. Diese Unterstützung ist auf mehreren Ebenen nötig, d. h. durch professionelles Stillmanagement, aber auch durch Familien und andere soziale Unterstützungsnetzwerke [13].

22.3.2. Scaling-up

Das Scaling-up von effektiven Gesundheitsinterventionen war bereits ein wesentliches Element der Millenniums-Entwicklungsziele und ist bei der Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung nun von noch zentralerer Bedeutung. Aus Sicht des Gesundheitswesens besteht die Raison d’Être eines Scaling-up darin, dass dadurch nutzbringende neue Technologien und Innovationen schnell und in großem Maßstab zu Verbesserungen der Gesundheit beitragen [28]. Es herrscht zwar kein allgemeiner Konsens über die Definition des Begriffs „Scaling-up“, doch ein zentraler Aspekt des Konzepts besteht darin, den Zugang zu qualitativ hochwertigen Programmen auf ein großes Segment der jeweiligen Zielbevölkerung auszuweiten. Scaling-up hat mehrere Dimensionen – hierzu zählen Angebot und Nachfrage nach Programmen sowie deren Auswirkungen [28]. Scaling-up erfordert einen starken Willen und einen übergeordneten strategischen Plan für die jeweils angestrebte Art der Programmexpansion, wie etwa die Übertragung oder Ausweitung eines Programms auf andere geografische Gebiete oder Zielgruppen (auch als horizontales Scaling-up bezeichnet); das administrative, politische, rechtliche bzw. institutionelle Scaling-up, bei dem eine Regierung entscheidet, ein Programm landesweit oder in Teilen des Landes einzuführen (vertikales Scaling-up) und/oder die Diversifizierung, bei der evidenzbasierte Komponenten in bestehende und bereits ausgebaute „Pakete“ aufgenommen werden (funktionales Scaling-up) [28]. Ob ein Programm nach dem Scaling-up nachhaltig erfolgreich ist, hängt in der Regel davon ab, wie gut es gelingt, vertikale und horizontale Scaling-up-Prozesse mit der Fähigkeit zur bedarfsgesteuerten Diversifizierung oder Anpassung zu verbinden.

Wir übernehmen hier die Definition, die Gillespie et al. kürzlich für den Bereich der Ernährung vorgeschlagen haben. Demnach ist Scaling-up „ein Prozess, der darauf abzielt, die Reichweite und Effektivität eines Maßnahmenbündels so zu maximieren, dass es sich nachhaltig auswirkt“ [29]. Anhand einer Analyse von begutachteten Fachpublikationen und der grauen Literatur benannten Gillespie et al. [29] 9 Elemente, die für ein erfolgreiches Scaling-up von Ernährungsprogrammen von zentraler Bedeutung sind:

  • eine klare Vision oder klare Ziele im Hinblick auf die Auswirkungen

  • die Merkmale der Intervention

  • ein organisatorischer Kontext, der ein Scaling-up ermöglicht

  • Einrichtung von Treibern wie Katalysatoren, Fürsprechern, systemübergreifenden Verantwortlichen und Anreizen

  • Auswahl von für den jeweiligen Kontext relevanten Strategien und Wegen für das Scaling-up

  • Aufbau operativer und strategischer Kapazitäten

  • Sicherstellen einer angemessenen, stabilen und flexiblen Finanzierung

  • Sicherstellen angemessener Steuerungsstrukturen und -systeme (Governance)

  • Einbettung von Mechanismen für Monitoring, Lernprozesse und Rechenschaftspflicht

Eine klare Zielsetzung im Hinblick auf die Auswirkungen setzt voraus, dass von Anfang an Gewissheit darüber herrscht, welcher Art und wie umfassend die Auswirkungen sein sollen, mit welchen Messgrößen sie adäquat erfasst werden können, welchen zwingenden Grund es für die Zielsetzung gibt und wie sie erreicht werden kann. Im Bezug auf das Element der Interventionsmerkmale müssen sich die Stakeholder im Klaren darüber sein, welche Merkmale konkret ein Scaling-up erfahren sollen, um eine weitreichende Wirkung zu erzielen – hierbei könnte es sich bspw. um eine Technologie, einen Prozess und/oder einen innovativen Ansatz handeln [30]. Um ein Scaling-up der Auswirkungen zu erzielen, muss das entsprechende Umfeld diesen Prozess ermöglichen. Dieses erfolgsbegünstigende Umfeld wird in hohem Maß von politischen Faktoren, geltenden Standards und strukturellen Faktoren bestimmt, die spezifisch für das Gesundheitswesen und gesellschaftliche Organisationssysteme sind. Die erfolgreiche Einführung und langfristige Umsetzung einer Scaling-up-Agenda setzt voraus, dass FürsprecherInnen aktiv sind, dass die richtige Mischung aus Anreizen gefunden wird, dass eine stabile Steuerungsstruktur gegeben ist und dass vor Ort Verantwortung für das ausgeweitete Programm übernommen wird.

Eine solide Scaling-up-Strategie ist notwendig, um im Hinblick auf das Was und Wie klare operative Leitlinien für die Umsetzung des Scaling-up zu erhalten. Dieses Schlüsselelement ist entscheidend für die Identifikation der geeigneten kontextspezifischen Vorgehensweisen und entsprechenden Prozesse, über die sich eine dauerhaft hohe Reichweite und Qualität des vom Scaling-up betroffenen Programms bzw. der betoffenen Intervention erzielen lassen. Der Aufbau operativer und strategischer Kapazitäten ist Voraussetzung für ein erfolgreiches Scaling-up. Kapazitäten werden auf individueller, organisatorischer und systemischer Ebene benötigt, um u.a. die Planung, die Implementierung und den Erhalt des Scaling-up-Prozesses sicherzustellen [28]. Für den Aufbau dieser Kapazitäten ist wiederum eine stabile, verlässliche Finanzierung erforderlich. Laut Gillespie et al. „umfasst die Steuerung eines Scaling-up-Prozesses alle Strukturen und Systeme, in deren Rahmen und auf deren Fundament die verschiedenen Phasen des Prozesses ablaufen“ [29]. Die Steuerung – Governance – betrifft den Kern des Entscheidungsprozesses sowie die Aufsicht über und die Rechenschaftspflicht für die Ressourcen, die für das Scaling-up eingesetzt werden. Sie erfordert ein gutes Verständnis der Schnittstelle zwischen vertikalen (von der nationalen bis zur lokalen Ebene) und horizontalen (intersektorale Koordination) Steuerungsstrukturen. Schließlich sind leistungsfähige Monitoring- und Evaluationssysteme notwendig, um den Scaling-up-Prozess auf Kurs zu halten und die hohe Reichweite und Qualität des Programms bzw. der Intervention nach dem Scaling-up langfristig zu gewährleisten.

22.3.3. Implementierungsforschung

Laut den National Institutes of Health (NIH) der USA handelt es sich bei Implementierungsforschung um die „wissenschaftliche Untersuchung von Methoden, mit denen sich Forschungsergebnisse und die wissenschaftliche Evidenz in die Gesundheitspolitik und Versorgungspraxis übertragen lassen“ [31]. Ein zentrales Ziel der Implementierungsforschung ist die Identifikation und Behebung von bedeutenden Engpässen (z. B. im Sozial-, Verhaltens- oder Finanzmanagement), die eine effektive Umsetzung von Programmen in der „realen Welt“ behindern. Ein 2. zentrales Ziel der Implementierungsforschung besteht darin, herauszufinden, ob und warum die Programme in der Anwendungspraxis die beabsichtigte Wirkung erzielen oder nicht [32]. Um dieses Ziel zu erreichen, wird in der Implementierungsforschung auch das Verhalten des Fachpersonals im Gesundheitswesen und anderer AkteurInnen untersucht, um die begünstigenden Faktoren für eine nachhaltige Akzeptanz, Übernahme und Implementierung von evidenzbasierten Interventionen zu verstehen [31].

Eine wichtige jüngere Entwicklung im Bereich der Ernährung ist die zunehmende Erkenntnis, dass die Implementierungsforschung stark vom Konzept der komplexen adaptiven Systeme (CAS) profitieren kann, das von GesundheitsforscherInnen über die Jahre entwickelt wurde. Dieses Konzept ist definiert als „multidisziplinärer Ansatz zur Erforschung des Verhaltens unterschiedlicher, miteinander verbundener AkteurInnen und Prozesse aus einer systemischen Perspektive“ [33]. Das CAS-Konzept für den Gesundheitsbereich eignet sich auch als Orientierungsrahmen für das Scaling-up von Stillprogrammen, da es auch hier darum geht, basierend auf einem multidisziplinären Ansatz das Verhalten von verschiedenen, miteinander verbundenen AkteurInnen und Prozessen aus einer nichtlinearen, systemischen Perspektive nachzuvollziehen [16], [33], [34]. Das CAS-Konzept erkennt an, dass Programme aus vielen beweglichen Teilen bestehen, die sich jeweils selbst organisieren, den Umständen entsprechend anpassen und aus Erfahrung lernen können [33], [34]. Konstituierende Elemente eines CAS sind: Feedbackschleifen, emergentes Verhalten, Interdependenz, skalenfreie Netzwerke und Pfadabhängigkeit. Alle diese Konzepte können helfen, die Nachhaltigkeit der skalierten Implementierung eines Programms einzuschätzen (Abb. 22‑2).

Abb. 22.2

Abb. 22.2 Konstituierende Elemente komplexer adaptiver Systeme. (Aus: Paina und Peters [33], mit freundlicher Genehmigung von Oxford University Press)

Feedbackschleifen treten auf, wenn ein Output, den ein Prozess an einer Stelle des Systems erzeugt, an anderer Stelle als Input wieder in dasselbe System eingespeist wird. Zum Beispiel ist es ein wesentliches Merkmal erfolgreicher nationaler Stillprogramme, dass es ihnen gelingt, krankenhaus- und gemeinwesenbasierte Maßnahmen so zu koordinieren, dass sie gegenseitig aufeinander verweisen [35]. So haben etwa randomisierte kontrollierte Studien in Brasilien und Weißrussland gezeigt, dass eine konsequente Umsetzung von Schritt 10 der Initiative Babyfreundliches Krankenhaus (BFHI) – Verknüpfung von klinischen und außerklinischen Aktivitäten – entscheidend für den langfristigen Bestand positiver Auswirkungen auf die Stillpraxis ist.

Unter skalenfreien Netzwerken versteht man Strukturen, die von einigen wenigen Knotenpunkten dominiert werden und in denen es eine unbegrenzte Zahl von Verbindungen gibt, deren Verteilung einem Potenzgesetz folgt (Abb. 22.2). Die soziale Netzwerkanalyse ist ein leistungsstarkes Forschungsinstrument, mit dem sich die „virale“ Verbreitung gesundheitsbezogener Verhaltensweisen im Modell abbilden lässt [36]. Eine solche „virale“ Verbreitung des Stillens kann stark begünstigt werden, wenn besonders bekannte Persönlichkeiten oder Rollenvorbilder als MultiplikatorInnen unter den FürsprecherInnen vorangehen und andere ihrem Beispiel folgen. So treten in erfolgreichen Stillkampagnen in den Massenmedien häufig berühmte Schauspielerinnen, Sportlerinnen oder andere Prominente auf. Auch FachärztInnen für Pädiatrie und Geburtshilfe haben schon als einflussreiche Stimmen zum Erfolg nationaler Stillprogramme beigetragen.

Ein Phasenübergang liegt vor, wenn die Merkmale von Systemparametern einen kritischen Wendepunkt erreichen, der eine radikale Veränderung mit sich bringt (Abb. 22.2). Im Fall des nationalen Stillprogramms in Brasilien bspw. dauerte es nach Programmbeginn mehrere Jahre, bis substanzielle Veränderungen des Stillverhaltens nachzuweisen waren. Hier war in den Anfangsjahren ein hohes Maß an evidenzbasierter Überzeugungsarbeit zu leisten, bis die mit dem Programm beabsichtigte Verhaltensänderung einsetzen konnte.

Das Konzept der Pfadabhängigkeit bedeutet, dass Prozesse, die an ähnlichen Ausgangspunkten beginnen, am Ende zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Diese hängen von Entscheidungen ab, die an „Weggabelungen“ im Verlauf des Prozesses getroffen werden (Abb. 22.2). Das Konzept der Pfadabhängigkeit erklärt auch, warum nationale Stillprogramme immer auf den Kontext vor Ort abgestimmt werden müssen.

Als emergente Verhaltensweisen bezeichnet man die spontane Entstehung von Ordnung aus einem „Chaos“, wenn viele kleinere Einheiten gemeinsam zu einem organisierten Verhalten als Kollektiv beitragen. Die weltweite Erfahrung zeigt, dass ein erfolgreiches Scaling-up dann möglich ist, wenn entscheidende AkteurInnen und Prozesse zur richtigen Zeit am richtigen Ort in einem Szenario des „perfekten Sturms“ zusammenkommen [13].

Das AIDED-Modell (Assess, Innovate, Develop, Engage, Devolve) ist ein Beispiel für ein unlängst entwickeltes CAS-basiertes Scaling-up-Konzept. Es dient dazu, die am besten geeigneten Methoden für ein Scaling-up von Interventionen zur Förderung der Familiengesundheit einschließlich des Stillens zu finden [30]. Das AIDED-Modell umfasst 5 wesentliche Schritte. Dazu zählen das Assessment, das Design und die Ausgestaltung einer Innovation sowie die Entwicklung einer Strategie. Dabei kommt es entscheidend darauf an, etwaige Widerstände gegen das Scaling-up zu erkennen, alle zentralen Stakeholder einzubeziehen und sich nachhaltig zu positionieren. Das Modell ist nicht -linear, umfasst mehrere Feedbackschleifen und gibt Ländern die Möglichkeit, den Scaling-up-Prozess an verschiedenen Ausgangspunkten aufzunehmen (Abb. 22‑3).

Abb. 22.3

Abb. 22.3 Das AIDED-Modell für ein Scaling up. Die einzelnen Komponenten des AIDED-Modells sind im Text ausführlich beschrieben. (Nachdruck aus [30], mit freundlicher Genehmigung der BMJ Publishing Group Ltd.)

Beim Assessment der Ausgangslage gilt es genau herauszufinden, wie offen und empfänglich die NutzerInnengruppen und ihr kontextuelles Umfeld für die Implementierung des Programms sind. Hierzu gehört auch die Analyse von Umfeldfaktoren, die die Akzeptanz des Programms fördern oder behindern könnten.

Die Innovation auf die Empfänglichkeit der Nutzerinnen abzustimmen bedeutet, das Programm den Gegebenheiten und Präferenzen vor Ort anzupassen, damit aufgeschlossene NutzerInnen das Programm in ihrem spezifischen Kontext als vorteilhaft betrachten. Eine Voraussetzung für diese Anpassung ist natürlich, dass Design und Ausgestaltung des Programms veränderbar sind, um den Anforderungen des örtlichen Kontexts gerecht zu werden.

Die Entwicklung von Unterstützung bezieht sich auf die Sensibilisierung des Umfelds mit dem Ziel, eine verstärkte Nutzung des Programms zu unterstützen. Dazu gehören eine verstärkte Aufklärung ebenso wie die Erkennung und Überwindung von Widerständen gegen die Innovation. Rechtliche und regulatorische Maßnahmen sowie wirtschaftliche Anreize sind wichtig, um ein begünstigendes Umfeld zu schaffen.

Die Einbindung der Nutzerinnengruppen muss während des gesamten Scaling-up-Prozesses gewährleistet sein und umfasst mehrere grundlegende Schritte: (1) Einführung der Innovation von außen in die NutzerInnengruppe hinein durch „GrenzgängerInnen“ (Boundary Spanners); (2) Übersetzung der Innovation, sodass NutzerInnengruppen die neuen Informationen aufnehmen können; und (3) Integration der Innovation in die Alltagspraxis und die sozialen Normen der Gruppen. Im ersten Schritt der Einbindung – der Einführung der Innovation – wird die NutzerInnengruppe über die Innovation informiert und aufgeklärt.

Das Delegieren der Verbreitung der Innovation zielt darauf ab, dass die NutzerInnengruppen selbst die Innovation verbreiten und in neue Gruppen innerhalb ihres Umfelds und Peer-Netzwerks einführen, sodass die Verbreitung und das Scaling-up des Programms eine Eigendynamik entwickeln.

22.3.4. Sozialmarketing

Eine eingehende Analyse der US-Stillförderkampagne Loving Support hat wichtige Erkenntnisse geliefert, sowohl zur Begriffsbestimmung von Sozialmarketing als auch dazu, wie sich dieser Ansatz zum Schutz, zur Förderung und Unterstützung des Stillens nutzen lässt [37]. Beim Sozialmarketing werden Techniken des kommerziellen Marketings angewendet, um das Gemeinwohl zu fördern [38]. Am Anfang einer Sozialmarketing-Kampagne steht die Identifikation eines Nutzens (z. B. Stillen). Dann wird untersucht, wie die Zielgruppe diesen Nutzen wahrnimmt (Tab. 22.1).

Tab. 22.1 Schlüsselbegriffe, Definitionen und Anwendungen von Sozialmarketing-Kampagnen für Verhaltensänderungen.

(Bitte nach rechts scrollen, um den ganzen Inhalt zu lesen.)

Schlüsselbegriff / Konzept

Definition

Anmerkungen / Stillbezogene Beispiele

Sozialmarketing

Anwendung der Grundsätze und Methoden des Marketings auf die Förderung sozialer Veränderungen und Verbesserungen

Sozialmarketing basiert auf 4 wechselseitig verbundenen Aspekten: Nutzen für die Zielgruppe, angestrebtes Verhalten, Kern der Kampagne und Marketing-Mix

Nutzen für die Zielgruppe

Nutzen der Verhaltensänderung aus Sicht der Zielgruppe

Steht im Mittelpunkt des Sozialmarketing-Ansatzes; Beispielfragen: Wie nehmen Frauen und die Gesamtgesellschaft den Nutzen des Stillens wahr? Wie schnell ist damit zu rechnen, dass sich der Nutzen des Stillens zeigt?

Angestrebtes Verhalten

Neu erworbene Verhaltensweise(n) aufgrund der Annahme und Nutzung eines Produkts, Inanspruchnahme eines Leistungsangebots und/oder Umstellung auf eine gesunde Verhaltensweise

Das Ziel von Sozialmarketing-Kampagnen sind bevölkerungsbezogene Verhaltensänderungen; hier lautet die Fragestellung z. B.: Was sind aus Sicht der Zielgruppe die bestimmenden Faktoren, der Kontext und die Auswirkungen einer Änderung oder Nichtänderung der Säuglingsernährungspraxis?

Kern der Kampagne

Identifizierung der Verhaltensweisen, Produkte und Leistungen, die essenziell wichtig sind, um die gewünschte Verhaltensänderung erfolgreich zu bewerben

Branding-, Relevanz- und Positionierungsstrategien, die auf die Präferenzen der Zielgruppe zugeschnitten sind, z. B.: Welche Art von (Werbe-)Botschaften zum Stillen stößt derzeit bei Leistungsempfängerinnen des US-Sozialprogramms WIC auf Resonanz? Welche Art von Infrastruktur (z. B. Initiative Babyfreundliches Krankenhaus), Leistungsangeboten (Peer-Beratung), Aktivitäten (Still-Selbsthilfegruppen) und Produkten (z. B. Milchpumpen) muss zugänglich gemacht werden? Wie relevant sind die einzelnen Angebote für die Wünsche und Bedürfnisse der jeweiligen Segmente der Zielpopulation? Wo und wie erhalten diese Zielgruppen Zugang dazu? Sind politische oder rechtliche Veränderungen erforderlich, um das Stillverhalten zu verbessern?

Marketing-Mix

Konkretes Design und Merkmale der Produkt-, Leistungs- und Aktivitätsangebote der Kampagne

Auch als die „4 Ps“ bezeichnet: Produkt-, Preis-, Platzierungs- und Promotion-Strategien für die Durchführung der Kampagne. Als Voraussetzung für diesen Schritt müssen die Punkte Zielgruppennutzen, angestrebtes Verhalten und Kern der Kampagne bereits abgearbeitet sein, basierend auf einer soliden prozessbegleitenden Evaluationsarbeit mit Angehörigen der Zielgruppen. Eine beispielhafte Leitfrage könnte sein: Passt der Marketing-Mix für die Kampagne zur Stillförderung zu den Lebensumständen der WIC-Leistungsempfängerinnen? Als Voraussetzung für diesen Schritt müssen die Punkte Zielgruppennutzen, angestrebtes Verhalten und Kern der Kampagne bereits abgearbeitet sein, basierend auf einer soliden prozessbegleitenden Evaluationsarbeit mit Angehörigen der Zielgruppen. Eine beispielhafte Leitfrage könnte sein: Passt der Marketing-Mix für die Kampagne zur Stillförderung zu den Lebensumständen der WIC-Leistungsempfängerinnen?

Preis

Anreize und Kosten der Verhaltensänderung aus Sicht der Zielgruppen

Der Preisbegriff geht im Sozialmarketing weit über rein monetäre Kosten hinaus und beinhaltet auch die von den Zielgruppen wahrgenommenen psychosozialen „Kosten“; z. B.: Haben WIC-Frauen das Gefühl, sie müssten ihren Job opfern, um 6 Monate lang ausschließlich stillen zu können? Sind die Frauen der Ansicht, dass sie es sich leisten können, den „Preis“ der mit dem Stillen in der Öffentlichkeit verbundenen gesellschaftlichen Stigmatisierung zu „bezahlen“? Sind die WIC-Empfängerinnen bereit, in eine Klinik zu gehen, um eine Peer-Beratung zu erhalten? Oder wäre es ihnen sehr viel lieber, wenn Peer-BeraterInnen zu ihnen nach Hause kämen? Sind genügend elektrische Milchpumpen zum Ausleihen verfügbar, oder werden die Frauen aufgefordert, sich eine Pumpe zu kaufen? Ist kostenlose Säuglingsmilchnahrung aus Sicht der WIC-Frauen ein starker Anreiz, nicht ausschließlich zu stillen?

Platzierung

Ort, an dem die Zielgruppe Zugang zu den Produkt-, Leistungs- und Aktivitätsangeboten der Kampagne hat

Die Zielgruppe muss Zugang zu den Instrumenten haben, die sie braucht, um die von der Kampagne angestrebten Verhaltensänderungen umzusetzen. Für die Kampagne unverzichtbar ist die Schaffung von Möglichkeiten und Räumen, zu denen die Zielgruppe Zugang hat, um gesunde Verhaltensweisen zu erlernen, zu praktizieren und dauerhaft zu übernehmen. Mögliche Leifragen: Gibt es am Wohnort der WIC-Empfängerinnen Stillförderprogramme? Sind die zur Stillförderung eingesetzten Social Media- und Mobiltechnologien und sonstigen Unterstützungsangebote gut auf die Gesundheitskompetenz und die kulturellen Normen der verschiedenen WIC-Bevölkerungsgruppen abgestimmt?

Promotion

Kommunikationsmaßnahmen zur weiteren Verbreitung der „beworbenen“ Verhaltensweisen, Produkte, Leistungen, Anreize und Prioritäten bei den verschiedenen Zielgruppen

Die Gesundheitskommunikation ist eine Komponente des Sozialmarketings, die für sich genommen nicht immer ausreicht, um Verhaltensänderungen herbeizuführen. Daher muss die Promotion mit den anderen 3 Komponenten des Sozialmarketing-Modells verzahnt werden, um den Erfolg der Verhaltensänderungskampagne zu gewährleisten. Informationen müssen überall und jederzeit auf kulturell angemessene Art und Weise vermittelt werden, damit die AdressatInnen fundierte Entscheidungen bezüglich der angestrebten Verhaltensänderung treffen können. So sollte etwa in der Kommunikationsstrategie der Kampagne berücksichtigt werden, dass die WIC-Empfängerinnen dialogische Kommunikationstechnologien bevorzugen, statt auf die althergebrachten linearen (Einbahn-)Kommunikationssysteme zu setzen.

Nach Lefebvre [38] und dem Institute of Medicine [52], Quelle: Pérez-Escamilla [37]; Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. WIC = Special Supplemental Nutrition Program for Women, Infants, and Children.

Die Entwicklung einer wirksamen Sozialmarketing-Kampagne erfordert nicht nur eine genaue Kenntnis der Faktoren, die das Verhalten in den verschiedenen Kontexten bestimmen, sondern auch der von der Zielgruppe wahrgenommenen Konsequenzen, wenn sie das Verhalten annimmt bzw. nicht annimmt. Dieses Wissen ermöglicht die grundlegende Entwicklung des Brandings, der Relevanz und der Positionierung der Kampagne mit einem evidenzbasierten Marketing-Mix entsprechend den „4 Ps“ (Produkt, Preis, Platzierung, Promotion). Der Marketing-Mix wird darauf ausgelegt, für eine größtmögliche Inanspruchnahme der angebotenen Produkte (z. B. Milchpumpen), Leistungen (z. B. Peer-Beratung) oder Aktivitäten (z. B. Still-Selbsthilfegruppe) zu sorgen und dabei zu berücksichtigen, mit welchem materiellen oder immateriellen Preis das Zielverhalten aus Sicht der Zielgruppe verbunden ist. Beispielsweise könnten sich erwerbstätige Frauen erheblich gegen das ausschließliche Stillen sträuben, wenn sie dafür ihren Job aufgeben müssten. Ebenso könnten PartnerInnen gegen das ausschließliche Stillen sein, wenn sie befürchten, dass ihre Frau beim Stillen in der Öffentlichkeit belästigt wird [16]. Die 3. Komponente des Marketing-Mixes besteht darin, die angebotenen Produkte oder Leistungen leicht zugänglich zu machen, etwa durch eine strategisch günstige Platzierung (z. B. in einem babyfreundlichen Krankenhaus oder eingebettet in ein Peer-Beratungsprogramm). Und nicht zuletzt müssen die Produkte oder Leistungen durch innovative Kommunikationskampagnen beworben werden und bei der Zielgruppe ankommen [26]. Effektive Sozialmarketing-Kampagnen für das Stillen müssen auf Grundlage von verschiedenen Methoden der prozessbegleitenden Forschung entwickelt werden, die effektive Systeme der Prozess- und Ergebnisevaluation beinhalten [25], [38].

22.3.5. Schlüsselkomponenten erfolgreicher Stillprogramme im großen Maßstab

Pérez-Escamilla et al. nahmen kürzlich eine systematische Auswertung von begutachteten Publikationen und der grauen Literatur vor, um die wichtigsten hemmenden und begünstigenden Faktoren für ein Scaling-up von effektiven Stillprogrammen zu ermitteln und im AIDED-Modell zu verorten [13]. Bei der Datenextraktion ergaben sich 22 begünstigende und 15 hemmende Faktoren für Weitergabe, Verbreitung, Scaling-up und/oder Nachhaltigkeit. Diese Faktoren wurden dann den 5 AIDED-Komponenten zugeordnet (Tab. 22.2, Tab. 22.3).

Tab. 22.2 Begünstigende Faktoren für Weitergabe, Verbreitung, Scaling-up und Nachhaltigkeit von Stillprogrammen nach Komponenten des AIDED-Modells.

Begünstigender Faktor

Für diesen Faktor relevante Komponente(n) des AIDED-Modells

Kontext

Internationale Interessenverbände: IBFAN, WABA

Entwicklung

Evidenzbasierte Empfehlungen: früher Stillbeginn; 6 Monate ausschließliches Stillen (WHO)

Entwicklung

Internationale Konsensgremien/-erklärungen: Bellagio und darüber hinaus

Entwicklung

Politische Unterstützung

Kosten/Ersparnis-Analysen

Assessment

Aufbau von Unterstützungsnetzwerken und Koalitionsbildung vor Ort unter Einbindung von MeinungsführerInnen

Entwicklung

Mobilisierung und Einbindung der Zivilgesellschaft

Entwicklung

Politische Sensibilisierung

Entwicklung

Politischer Wille

Entwicklung

Verbindliches, langfristiges Engagement für das Scaling-up

Verbreitung

Prozess- und nachhaltigkeitsbegünstigende Faktoren

Forschung und Evaluation

Assessment der Ausgangslage/Bedarfsanalyse in Einrichtungen und im Gemeinwesen

Assessment

Formative (prozessbegleitende) Forschung/Pilotstudien

Assessment

Programmdurchführung

Enrichtungsbasierte Versorgungssysteme, z. B. BFHI

Innovation, Entwicklung, Einbindung, Verbreitung

Gemeinwesenbasierte Förderung und Unterstützung des ausschließlichen Stillens, z. B. babyfreundliche Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung, Peer-BeraterInnen, Gesundheitspersonal auf Gemeindeebene, Selbsthilfegruppen für Mütter

Innovation, Entwicklung, Einbindung, Verbreitung

Kommunikations-/Massenmedien-Kampagnen; Zielgruppe: MeinungsführerInnen, politische EntscheidungsträgerInnen, Mütter; einfache Botschaften und Botschaften mit doppelter Signalwirkung; Prominente

Innovation, Entwicklung, Einbindung

Öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen: Weltstillwoche und andere

Innovation, Einbindung, Verbreitung

Einbettung in bereits existierende Programme der Gesundheitsvorsorge: Impfungen, Bekämpung von Diarrhö, Familienplanung oder andere

Innovation, Entwicklung, Einbindung, Verbreitung

Aus- und Weiterbildung von Personal

Aus-/Fortbildung: AdministratorInnen, Fach- und Hilfspersonal im Gesundheitswesen

Entwicklung, Verbreitung

Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften

Entwicklung

Curricula in der Medizin- und Pflegeausbildung

Entwicklung

Gesetzgebung

Gesetze zu Mutterschafts- und Erziehungsurlaub, Arbeitsrecht, WHO-Kodex

Entwicklung, Verbreitung

Programmkoordination und Qualitätskontrolle

Sektorenübergreifende Koordination: Staat, Zivilgesellschaft (NGOs, Stiftungen), medizinische Fachgesellschaften, ForscherInnen, Massenmedien

Entwicklung, Einbindung, Verbreitung

Monitoring und Evaluation, kostengünstige „Frühwarnsysteme

Assessment, Verbreitung

Nach Pérez-Escamilla et al. [13]. BFHI = Initiative Babyfreundliches Krankenhaus, IBFAN = International Baby Food Action Network, NGO = Nichtregierungsorganisation, WABA = World Alliance for Breastfeeding Action, WHO = Weltgesundheitsorganisation.

Tab. 22.3 Hemmende Faktoren für Weitergabe, Verbreitung, Scaling-up und Nachhaltigkeit von Programmen für ausschließliches Stillen nach Komponenten des AIDED-Modells.

(Bitte nach rechts scrollen, um den ganzen Inhalt zu lesen.)

Hemmender Faktor

Anzahl Quellen, die den Faktor anführen

Für diesen Faktor relevante Komponente(n) des AIDED-Modells

Unethische Vermarktung von industriell hergestellter Säuglingsmilchnahrung

7

Entwicklung, Einbindung, Verbreitung

Berufstätigkeit der Mutter

2

Einbindung

Nicht nachhaltiges Personalentwicklungssystem (beeinträchtigt Nachhaltigkeit)

3

Verbreitung

Überlastung des Personals in klinischen und gemeinwesenbasierten Gesundheitseinrichtungen

1

Verbreitung

Investition in Gesundheitspersonal auf Gemeindeebene nur für Stillförderung schwer zu rechtfertigen

5

Entwicklung, Verbreitung

Starke Abhängigkeit von internationaler Unterstützung (beeinträchtigt Nachhaltigkeit)

3

Verbreitung

Schwache Monitoring- und Evaluationssysteme

3

Assessment, Entwicklung, Verbreitung

Lange Wartezeit, bis Veränderungen spürbar werden

1

Verbreitung

Mangelnde Stillförderung und -unterstützung auf Gemeindeebene

3

Entwicklung, Einbindung, Verbreitung

Unbezahlte „Freiwillige“: hohe Fluktuation

3

Entwicklung, Verbreitung

Kulturelle Überzeugungen: Milch „unzureichend“ etc.

5

Innovation, Einbindung

Mangelnde Anreize auf mehreren Ebenen

1

Assessment, Verbreitung

„Maßnahmenmüdigkeit“

2

Verbreitung

Fehlendes System für Überweisungen bei Problemen mit dem Laktationsmanagement

1

Einbindung

Unzureichende zwischenmenschliche Kommunikationsfähigkeiten bei Peer-BeraterInnen/Gesundheitspersonal auf Gemeindeebene

2

Assessment, Entwicklung, Einbindung

Nach Pérez-Escamilla et al. [13]. M&E: Monitoring und Evaluierung.

Die Zuordnung der hemmenden und begünstigenden Faktoren zu den Komponenten des AIDED-Modells ergab die folgende Klassifizierung:

Assessment

Die mpirische Evidenz deutet darauf hin, dass der Erfolg der Weiterverbreitung und des Scaling-up von stillfördernden Maßnahmen stark von einem korrekten initialen Assessment der Bedürfnisse von Einrichtungen und Menschen sowie von formativen (prozessbegleitenden) Forschungs- und Pilotstudien abhängt. Diese Bemühungen sind besonders erfolgreich, wenn bei der Bedarfsermittlung zum Scaling-up der Stillförderung die Stimmen aller wesentlichen Stakeholder aus den unterschiedlichen Sektoren gehört werden.

Innovation

Drei Innovationen haben sich bei der effektiven Anpassung und Ausgestaltung von Stillförderprogrammen und einem nachfolgenden erfolgreichen Scaling-up als besonders wichtig erwiesen: (1) Kommunikations- und Massenmedien-Kampagnen, die den Boden für die Einführung eines Stillförderprogramms im Zielgebiet bereiten; (2) einrichtungsbasierte Versorgungssysteme (z. B. BFHI [35]); (3) gemeinwesenbasierte Programme zur Förderung und Unterstützung des ausschließlichen Stillens, z. B. Peer-BeraterInnen, Gesundheitspersonal auf Gemeindeebene, Selbsthilfegruppen für Mütter und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten wie die Weltstillwoche.

Entwicklung

Das Fundament der globalen Bemühungen zur Förderung des Stillens sind evidenzbasiert arbeitende internationale Konsensgremien und -erklärungen sowie globale Empfehlungen zur Säuglingsernährung von Institutionen wie UNICEF und WHO. Einen maßgeblichen Beitrag zur Umsetzung dieser theoretischen Grundlagen in die Praxis leisten internationale Interessenverbände (wie z. B. das International Baby Food Action Network [IBFAN] oder die World Alliance for Breastfeeding Action [WABA]) und örtliche Interessengruppen. Ebenfalls von zentraler Bedeutung ist hier der Aufbau von Koalitionen mit unterschiedlichen Stakeholdern, insbesondere MeinungsführerInnen. Für ein erfolgreiches Scaling-up ist es unerlässlich, sich die langfristige Unterstützung politischer EntscheidungsträgerInnen zu sichern – und zwar durch politische Bewusstseinsbildung auf Grundlage von Kosten/Ersparnis-Analysen – und gleichzeitig die Zivilgesellschaft zu mobilisieren und aktiv einzubeziehen. Gesetze zum Mutterschaftsurlaub und anderen arbeitsrechtlichen Fragen sowie die Durchsetzung des Internationalen Kodexes der WHO für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten (WHO-Kodex) sind von zentraler Bedeutung für die Schaffung des unterstützenden Umfelds, das für eine erfolgreiche Förderung des ausschließlichen Stillens in großem Maßstab benötigt wird. So wurden etwa häufige Verstöße gegen den WHO-Kodex immer wieder als großes Hindernis für die Stillförderung identifiziert. Ein weiterer Schlüssel zum nachhaltigen Scaling-up von Programmen zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens besteht in der Aus-/Fortbildung von Fach- und Hilfspersonal im Gesundheitswesen und in der Verwaltung – hier könnten verbesserte Curricula in der Medizin- und Pflegeausbildung eine positive Rolle spielen. Für ein erfolgreiches Scaling-up von Stillprogrammen muss außerdem eine physische einrichtungs- und gemeinwesenbasierte Infrastruktur vorhanden sein, damit Leistungen zur Stillunterstützung zielgruppennah bereitgestellt werden können. Beispielsweise konnte die BFHI in vielen Ländern zunächst nicht implementiert werden, weil Entbindungsstationen nicht für das Rooming-in konzipiert waren. Noch heute werden Bemühungen zur Stillförderung weltweit dadurch erschwert, dass es an einer gemeinwesenbasierten Infrastruktur für das Laktationsmanagement mangelt.

Einbindung

Stillförderprogramme zielen letztlich darauf ab, Mütter für eine optimale Praxis der Säuglingsernährung zu gewinnen, wozu auch das ausschließliche Stillen zählt. Die Entscheidungen der Mutter zur Ernährung ihres Säuglings werden von zahlreichen Faktoren beeinflusst, so auch von den Ratschlägen durch Fachpersonal im Gesundheitswesen, Angehörige, NachbarInnen, FreundInnen, Medien und andere. Kleinere Studien haben ergeben, dass Frauen in verschiedenen Kulturen mit erheblich höherer Wahrscheinlichkeit ausschließlich stillen, wenn sie mit innovativen Ansätzen angesprochen werden, die ihren Lebenskontext berücksichtigen. Der Schlüssel zum Erfolg dieser Maßnahmen liegt darin, auf kulturelle Überzeugungen rund um die Säuglingsernährung einzugehen, z. B. den verbreiteten Irrglauben, dass viele Mütter nicht genug Milch bilden, um ihre Kinder ausschließlich zu stillen [39]. Dieser weit verbreitete Irrglaube wurde immer wieder als einer der stärksten Risikofaktoren für die frühe Einführung von Muttermilchersatzprodukten und industriell hergestellter Säuglingsmilchnahrung ausgemacht. Sobald mit der Fütterung von industriell hergestellter Säuglingsmilchnahrung begonnen wurde, ist die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, dass die Mutter zum ausschließlichen Stillen zurückkehrt, und die Stilldauer verkürzt sich entsprechend. Daher ist es wichtig, den Ursprung dieses verbreiteten Irrglaubens in der jeweiligen Kultur zu ergründen und wirksam anzugehen. Ein weiteres großes Hindernis beim Scaling-up von Schutz-, Förder- und Unterstützungsprogrammen für das Stillen sind unzureichende kommunikative Fähigkeiten auf Seiten des Fach- und Hilfspersonals im Gesundheitswesen – auch auf Gemeindeebene – und bei Peer-BeraterInnen. So wichtig es ist, dass dieses Personal in den fachlichen Aspekten des Laktationsmanagements und der Stillförderung umfassend geschult ist – dies allein reicht für ein erfolgreiches Scaling-up nicht aus. Vielmehr müssen bei sämtlichen Personen, die Frauen beim Stillen unterstützen, die Fähigkeiten zur Kommunikation und nicht-wertenden Beratung entwickelt werden. Eine hohe Empfänglichkeit ist am wahrscheinlichsten, wenn stillende Frauen und die sie unterstüzenden Personen voll in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden. Andernfalls dürften die Bemühungen, die Zielpersonen erfolgreich einzubeziehen, wenig Erfolg haben und das Scaling-up wird letztlich scheitern. Innovative einrichtungs- und gemeinwesenbasierte Ansätze zur Stillförderung und -unterstützung, z. B. durch Peer-BeraterInnen, Gesundheitspersonal auf Gemeindeebene oder Selbsthilfegruppen für Mütter, sind für die erfolgreiche Einbindung der Zielpersonen entscheidend.

Verbreitung

Sobald das Scaling-up eines umfassenden Stillprogramms erfolgreich umgesetzt wurde und das ausschließliche Stillen bei den ersten Nutzerinnen weit verbreitet ist, gilt es dafür zu sorgen, dass die Maßnahme auch in der nächsten „Generation“ von Nutzerinnen weiter verbreitet wird, damit der Erfolg des Scaling-up auch langfristig Bestand hat. Hierfür müssen 6 Bedingungen erfüllt sein:

  1. Ein effektives, nachhaltiges Laktationsmanagement und Kommunikation/Beratung durch Train-the-Trainer-Programme müssen gegeben sein.

  2. Es müssen Strukturen für eine nachhaltige Personalentwicklung und -ausbildung geschaffen werden, die medizinisches, pflegerisches und sonstiges Fachpersonal umfassen.

  3. Es müssen Vorkehrungen getroffen werden, um Redundanzen zu vermeiden, z. B. durch Einbindung der Stillförderung in bestehende Programme zur Gesundheitsvorsorge wie die Bekämpfung von Diarrhö, Impfungen, Familienplanung oder Wachstumskontrollen.

  4. Auch die für eine effektive Stillförderung erforderliche einrichts- und gemeinwesenbasierte Infrastruktur muss verfügbar sein.

  5. Es müssen Monitoring- und Evaluationssysteme einschließlich kostengünstiger „Frühwarnsysteme“ eingerichtet sein, die ein dezentralisiertes Management der stillfördernden Maßnahmen vor Ort ermöglichen.

Im Rahmen der bisherigen Erfahrungen mit dem Scaling-up von Programmen wurden auch spezifische Hindernisse für die Weiterverbreitung identifiziert. Dabei handelte es sich z. B. um mangelnde Anreize für das Personal, „Maßnahmenmüdigkeit“, Abwanderung von geschultem Personal aus den anfänglichen NutzerInnengruppen sowie die Praxis, mit anderen Aufgaben bereits überlastete MitarbeiterInnen mit der Weiterverbreitung zu beauftragen [40]. Das Problem der Maßnahmenmüdigkeit wurde als einer der Gründe für den Rückgang der BFHI-Qualität in mehreren Ländern identifiziert, in denen die BFHI vor mehr als 10 Jahren eingeführt wurde. Scheinbar hat die Adhärenz zum „Gesamtpaket“ der Schritte mit der Zeit abgenommen, insbesondere nach der initialen Zertifizierung und Anerkennung.

22.3.6. Ein Modell für das Scaling-up von Stillprogrammen

Auf Grundlage der oben dargestellten Klassifizierung und Zuordnung von hemmenden und begünstigenden Faktoren wurde das AIDED-Modell zum praxisorientierten Zahnradmodell des Stillens (Breastfeeding Gear Model, BFGM) weiterentwickelt. Dieses richtet sich konkret an EntscheidungsträgerInnen (Abb. 22.4).

Abb. 22.4

Abb. 22.4 Das Zahnradmodell des Stillens (BFGM) (Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Pérez-Escamilla, et al. [13]).

Das BFGM veranschaulicht, dass mehrere wichtige „Zahnräder“ – wie bei einem gut geschmierten Getriebe – synchron und koordiniert ineinandergreifen müssen, damit auch nach dem Scaling-up Schutz, Förderung und Unterstützung des Stillens effektiv gewährleistet bleiben. Es bedarf einer evidenzbasierten Anwaltschaft, um für den nötigen politischen Willen zu sorgen, Gesetze und Richtlinien zu erlassen, die das Stillen auf klinischer Ebene und innerhalb des Gemeinwesens schützen, fördern und unterstützen. Diese Achse aus Politik und Richtlinien wiederum treibt die Allokation der finanziellen und sonstigen Ressourcen an, die für die Personalentwicklung, Programmumsetzung und Werbung benötigt werden. Forschung und Evaluation sind erforderlich, um das für die Zielsetzung und systemweites Feedback erforderliche Zahnrad „Koordination“ des dezentralen Programms am Laufen zu halten. Das BFGM zeichnet sich durch eine hohe Konstruktvalidität aus und hat bereits dazu beigetragen, die Unterschiede in der Entwicklung der nationalen Stillraten zwischen Mexiko und Brasilien zu erklären (Abb. 22.5) [13].

Abb. 22.5

Abb. 22.5 Anwendung des Zahnradmodells des Stillens (BFGM) zur Erklärung der unterschiedlichen Stillraten in Brasilien und Mexiko (Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Pérez-Escamilla, et al. [13]).

Das BFGM ist im Prinzip ein spezifisches CAS-Skalierungsmodell. Das nichtlineare Zahnradmodell veranschaulicht das perfekte Ineinandergreifen von Faktoren im Sinne eines „perfekten Sturms“, das laut dem CAS-Konzept für eine erfolgreiche Emergenz von nationalen Stillprogrammen unerlässlich ist. Laut dem BFGM verhalten sich nationale Stillprogramme wie ein Motor, bei dem verschiedene sektorenübergreifende und miteinander verzahnte Elemente von einem Hauptantriebsrad mittels Feedbackschleifen koordiniert werden, damit der gesamte Motor reibungslos läuft. Das BFGM erkennt an, dass einflussreiche FürsprecherInnen und Führungspersönlichkeiten einbezogen werden müssen, um eine starke Nachfrage und Akzeptanz für die Programmangebote zu schaffen (skalenfreie Netzwerke). Es enthält u.a. das Zahnrad „evidenzbasierte Anwaltschaft“, das oft als erstes organisiert wird, um das Fundament für den Aufbau der gesamten Maschinerie zu legen, lange bevor substantielle Veränderungen des Stillverhaltens tatsächlich sichtbar werden (Phasenübergänge). Und nicht zuletzt erkennt das BFGM an, dass die Zahnräder zwar in allen Ländern wahrscheinlich die gleichen sind, aber die Bolzen und Schrauben, die das Getriebe zusammenhalten, je nach Kontext unterschiedlich sein können (Pfadabhängigkeit) [41].

Die Konstruktvalidität des BFGM wurde einer umfassenden Peer-Review unterzogen. Diese bestätigte, dass das Modell sowohl die Schlüsselkomponenten für den Schutz, die Förderung und die Unterstützung des Stillens identifizieren konnte als auch die Hauptelemente des heuristischen Modells politischer Prozesse. Zu letzteren gehören die Agendasetzung (Agenda-Setting, d. h. Schärfung des Problembewusstseins), die Ausformulierung und Adoption von Richtlinien, die effektive Implementierung der Richtlinien mittels diverser Programme oder Interventionen und deren Monitoring und Evaluation [42]. Darüber hinaus betont das Modell ausdrücklich, dass FürsprecherInnen und visionäre Führungspersönlichkeiten unerlässlich sind, um den politischen Prozess voranzutreiben [42].

22.3.7. Indikatoren für das Scaling-up von Stillprogrammen

Bisher existieren keine Werkzeugkästen oder Blaupausen, auf die politische EntscheidungsträgerInnen beim Scaling-up von Stillprogrammen nach handlungsorientierten CAS-Konzepten wie dem BFGM zurückgreifen könnten. Allerdings wurden im Rahmen von 2 wichtigen Initiativen Indikatoren entwickelt, die einen fundierten Scaling-up-Prozess ermöglichen sollen. Bei diesen handelt es sich um die im Jahre 2003 gestartete Initiative der WHO mit dem Titel Infant and Young Child Feeding: A Tool for Assessing National Practices, Policies and Programmes [43] sowie um die World Breastfeeding Trends Initiative (WBTi) der IBFAN aus dem Jahr 2004 [44], die stark an das WHO-Tool angelehnt ist. Beide Initiativen wollen unter Einbeziehung der Stakeholder ein Assessment der Ergebnisparameter, Aktivitäten und Prozesse auf dem Gebiet der Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern (IYCF) vornehmen, welches Staaten ermöglicht, entsprechende Bedarfslücken zu identifizieren.

22.4. Das WHO-Tool

Das spezifische Ziel des WHO-Tools ist es, Staaten dabei zu unterstützen, „die Stärken und Schwächen von politischen Richtlinien und Programmen zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung optimaler Säuglingsernährungspraktiken zu beurteilen und festzustellen, wo Verbesserungen erforderlich sein könnten, um die Ziele und Vorgaben der Globalen Strategie zur Säuglings- und Kleinkindernährung zu erreichen.“ [43] Es wird empfohlen, das Tool in mehrjährigen Intervallen immer wieder anzuwenden, um bei den verschiedenen Kenngrößen Trends zu dokumentieren, Lücken zu identifizieren und Staaten im Planungsprozess zu unterstützen. Das Tool ist speziell für Teams bestimmt, die sich aus wichtigen nationalen EntscheidungsträgerInnen, Programm-ManagerInnen und -MitarbeiterInnen sowie führenden NGO-VertreterInnen zusammensetzen.

Das Tool, das stark auf die Innocenti-Deklaration (1990) und die damit verknüpfte Globale IYCF-Strategie (WHO/UNICEF 2003) aufbaut, ist in 3 Hauptbereiche unterteilt:

  • IYCF-Praktiken

  • nationale politische IYCF-Richtlinien und -Zielsetzungen

  • nationales IYCF-Programm

Das Herzstück des Tools sind die Kriterien, mit denen die einzelnen Indikatoren aus jedem der 3 Bereiche bewertet bzw. eingestuft werden. Im Handbuch wird konkret erläutert, wie die Beurteilung der einzelnen Indikatoren vorzunehmen ist. Hierzu zählen:

  • Schlüsselfrage, die beantwortet werden soll

  • Hintergrund, warum die Praxis, die Richtlinien oder das Programm wichtig sind

  • mögliche Informationsquellen

  • Interpretationskriterien zur Ermittlung von Erfolgen oder anzugehenden Herausforderungen

Zum Assessment der Verbreitung der unterschiedlichen IYCF-Praktiken empfiehlt das Tool stichprobenartige Erhebungen in Haushalten, die repräsentativ für die jeweils zu beurteilende Ebene (von national bis regional) sind (Tab. 22.4). Danach wird jeder IYCF-Verhaltensindikator anhand der Prävalenz und der evidenzbasierten Grenzwerte mit „mangelhaft“, „ausreichend“, „gut“ oder „sehr gut“ bewertet.

Tab. 22.4 Säuglings- und Kleinkindernährung – Tool zum Assessment nationaler Praktiken, politischer Richtlinien und Programme: Säuglingsernährungspraxis und jeweils zugehörige(r) Indikator(en).

Säuglingsernährungspraxis

Indikator

Stillbeginn

% der Säuglinge, die innerhalb der 1. Stunde nach der Geburt gestillt wurden

Ausschließliches Stillen

% der Säuglinge im Alter von 0 bis < 6 Monaten, die in den letzten 24 Stunden ausschließlich gestillt wurden

Stilldauer

Mediane Dauer der Stillernährung von Kindern unter 3 Jahren, in Monaten

Flaschenfütterung

% der gestillten Säuglinge im Alter von 0 bis < 12 Monaten, die in den letzten 24 Stunden mit der Flasche gefüttert wurden

Fütterung von Beikost

% der gestillten Säuglinge im Alter von 6 oder 7 bis < 10 Monaten, die in den letzten 24 Stunden mit Beikost gefüttert wurden

Weltgesundheitsorganisation (WHO). Infant and young child feeding. A tool for assessing national practices, policies and programmes, 2003. Abzurufen unter: http://www.who.int/nutrition/publications/inf_assess_nnpp_eng.pdf

Zum Assessment von politischen IYCF-Richtlinien und -Zielsetzungen wird für jeden der 6 Indikatoren dieses Teilbereichs ein Ergebnis (Score) ermittelt, das sich aus den gewichteten Scores für jedes Kriterium, den prozentualen Anteilen (d. h. Anteil der Einrichtungen mit BFHI-Akkreditierung) oder aus ordnungsgemäßer Implementierung, Monitoring und Durchsetzung politischer Vorgaben (d. h. des WHO-Kodexes) ergibt. Der Score für die einzelnen Indikatoren reicht von 0–10 (Tab. 22.5) (bzw. im Fall von prozentualen Anteilen von Einrichtungen mit BFHI-Akkreditierung von 0–100%) und die Indikatoren werden schlussendlich gemäß vorgegebener Grenzwerte mit „mangelhaft“, „ausreichend“, „gut“ oder „sehr gut“ bewertet.

Tab. 22.5 Säuglings- und Kleinkindernährung – Tool zur Beurteilung nationaler Praktiken, politischer Richtlinien und Programme. Indikatoren für den Teilbereich politische Richtlinien und Zielsetzungen.

Richtlinien und Zielsetzungen

Anz. Indikatoren

Schwerpunkt

Nationale Richtlinien für die Säuglings- und Kleinkindernährung

7

Basierend auf der Globalen Strategie zur Säuglings- und Kleinkindernährung

Nationale KoordinatorInnen und Gremien

5

Sektorenübergreifende Koordination

Umsetzung der Initiative Babyfreundliches Krankenhaus

1

% der Einrichtungen, die von der Initiative Babyfreundliches Krankenhaus akkreditiert wurden

Internationaler Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten

6

Implementierung und Monitoring der Einhaltung des Kodexes

Gesetze zum Schutz und zur Unterstützung des Stillens bei berufstätigen Müttern

7

Adoption und Implementierung des ILO-Übereinkommens über den Mutterschutz

Operative Ziele der Globalen Strategie

5

Implementierung des Aktionsplans

ILO = International Labour Organization

Weltgesundheitsorganisation (WHO). Infant and young child feeding. A tool for assessing national practices, policies and programmes, 2003. Abzurufen unter: http://www.who.int/nutrition/publications/inf_assess_nnpp_eng.pdf

Innerhalb des IYCF-Programms werden die Kriterien für die 12 Indikatoren als „nicht erfüllt“, „teilweise erfüllt“ oder „vollständig erfüllt“ eingestuft und entsprechend mit einem gewichteten Score bewertet (Tab. 22.6). Die Scores für die einzelnen Indikatoren reichen von 0–10; jeder Indikator wird gemäß vorgegebenen Grenzwerten mit „mangelhaft“, „ausreichend“, „gut“ oder „sehr gut“ bewertet. Da sich die Programmindikatoren häufig quantitativ schwer bewerten lassen, kann alternativ auch eine qualitative Beurteilung erfolgen, indem der Grad der Zielerreichung als „niedrig“, „mittel“ oder „hoch“ eingestuft wird [43].

Tab. 22.6 Säuglings- und Kleinkindernährung – Tool zur Beurteilung nationaler Praktiken, politischer Richtlinien und Programme: Programmindikatoren.

Programm

Anz. Indikatoren

Schwerpunkt

Nationales Programm für die Säuglings- und Kleinkindernährung

5

Sektorenübergreifend finanziertes Programm vorhanden

Aktiv und nachhaltig tätige Initiative Babyfreundliches Krankenhaus

7

Ressourcen, Infrastruktur und nationale Koordination

Strategien für die mutterfreundliche Entbindung

5

Methoden für die mutterfreundliche Entbindung

Praxisvorbereitende Ausbildungsgänge in Gesundheitsberufen

5

Medizin-, Pflege- und Hebammenausbildung, Studiengänge in Ernährungs- und Gesundheitswissenschaften

Berufsbegleitende Aus- und Fortbildung in Gesundheitsberufen

7

Inhalte des Curriculums, Kenntnisse und Fähigkeiten von Fach- und Hilfspersonal

Kontakt mit und Unterstützung von Gemeinwesen

6

Einbeziehung von Nicht-Gesundheitsorganisationen

Aufklärung, Bildung und Kommunikation

7

Umfassende evidenzbasierte interne Kommunikationsstrategie

Unterstützung bei der Empfängnisverhütung für stillende Frauen

5

Laktations-Amenorrhö-Methode (LAM)

HIV und Säuglingsernährung

7

Freiwillige Beratung und Testung einschließlich Nachbetreuung

Säuglings- und Kleinkindernährung in Notsituationen

4

Koordination zwischen Staat, internationalen Organisationen und anderen nichtstaatlichen AkteurInnen; angemessene Ausbildung

Forschung als Entscheidungsgrundlage

7

Translationsforschung und Evaluation zur Unterstützung der Entscheidungsfindung

Monitoring und Evaluation

5

Angemessene Managementinformationssysteme (MIS) mit hohem praktischem Nutzen für EntscheidungsträgerInnen

Weltgesundheitsorganisation (WHO). Infant and young child feeding. A tool for assessing national practices, policies and programmes, 2003. Abzurufen unter: http://www.who.int/nutrition/publications/inf_assess_nnpp_eng.pdf

Aus Vorab-Tests in 9 Ländern wurden die folgenden Empfehlungen für eine optimale Nutzung des Tools abgeleitet: (1) Identifikation eines Hauptkoordinators bzw. einer Hauptkoordinatorin und der wichtigsten benötigten Unterstützung; (2) Benennung eines Beurteilungsteams; (3) Planung und Durchführung von Beurteilungen anhand vorab festgelegter operativer Regeln [43].

22.5. Die World Breastfeeding Trends Initiative (WBTi)

Die WBTi stützt sich maßgeblich auf das WHO-Tool sowie das Projekt Global Participatory Action Research (GLOPAR) der World Alliance for Breastfeeding Action (WABA). Die Initiative wurde von IBFAN Asia auf den Weg gebracht und dient der Verfolgung, dem Assessment und dem Monitoring der weltweiten Umsetzung der Globalen IYCF-Strategie mittels webbasiertem Toolkit [44]. Die WBTi-Methode beruht auf einem Scoring für 15 Indikatoren, von denen sich 10 auf politische Richtlinien und Programme beziehen und 5 auf die Praxis der Säuglingsernährung (Tab. 22.7).

Politische Richtlinien und Programme

Säuglingsernährungsraxis

Nationale Richtlinien, Programme und Koordination

Prozentsatz der Säuglinge, die innerhalb der 1. Stunde nach der Geburt gestillt wurden

Initiative Babyfreundliches Krankenhaus

Prozentsatz der Säuglinge im Alter < 6 Monaten, die in den letzten 24 Stunden ausschließlich gestillt wurden

Einhaltung des Internationalen Kodexes für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten

Mediane Stilldauer in Monaten

Mutterschutz

Prozentsatz der gestillten Säuglinge im Alter < 6 Monaten, die andere Nahrungsmittel oder Getränke aus der Flasche bekamen

Ernährungs- und Gesundheitsversorgungssystem (zur Unterstützung des Stillens und der IYCF)

Prozentsatz der gestillten Säuglinge im Alter von 6–9 Monaten, die Beikost bekamen

Unterstützung der Mütter und Outreach in das Gemeinwesen (gemeinwesenbasierte Unterstützungsangebote für schwangere und stillende Frauen)

Aufklärungsarbeit

Säuglingsernährung und HIV

Säuglingsernährung in Notsituationen

Mechanismus der Monitoring- und Evaluationssysteme

Anmerkung: Hintergrundinformationen zu den Millenniumsentwicklungszielen Nr. 1 (extreme Armut und Hunger), 4 (Kindersterblichkeit) und 5 (Müttergesundheit) werden gesammelt, aber nicht mit Punktzahlen, Farbcodes oder Noten bewertet. Diese Hintergrundinformationen können genutzt werden, um den gesundheitlichen, ernährungsphysiologischen und sozioökonomischen Kontext besser zu verstehen, der die Praktiken und Programme der Säuglings- und Kleinkindernährung beeinflusst.

World Breastfeeding Trends Initiative (WBTi). WBTi Guide Book. Abzurufen unter: http://worldbreastfeedingtrends.org/wp-content/uploads/2015/03/docs/WBTi-Guide-Book-2014.pdf

Für das Scoring jedes Indikators sind spezifische Kriterien vorgegeben [45]. Jedes Kriterium für jeden der 10 Richtlinien- und Programmindikatoren wird mit einer Punktzahl von 0–3 bewertet, und jeder Indikator erhält einen Punktwert zwischen 0 und 10; pro Land kann so eine maximale Punktzahl von 150 erreicht werden. Zur einfachen Veranschaulichung werden die Indikatoren dann je nach Punktzahl farblich codiert: rot bei einer Punktzahl von 0–3,5, gelb bei 4–6,5, blau bei 7–9 und grün bei einer Punktzahl > 9. Genau wie beim WHO-Tool richtet sich die Beurteilung der 5 IYCF-bezogenen Indikatoren nach der tatsächlichen Prävalenz im Vergleich zur internationalen Empfehlung und wird ebenfalls farblich codiert (rot, gelb, blau oder grün). Übereinstimmend mit dem WHO-Tool empfiehlt die WBTi, dass jeder Staat ein eigenes Gremium aus VertreterInnen der verschiedenen Stakeholder-Gruppierungen bildet. Dieses Gremium soll dann die Beurteilung der WBTi-Indikatoren auf Grundlage von vorhandenen Daten und/oder Befragungen von Schlüsselpersonen vornehmen. Alle Daten werden auf der benutzerInnenfreundlichen WBTi-Website eingegeben. Die Ergebnisse werden grafisch so aufbereitet, dass sie für evidenzbasierte Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit verwendet werden können. Mit diesem partizipatorischen Prozess sollen nicht nur Versorgungslücken identifiziert, sondern auch die praktische Umsetzung der nötigen Veränderungen angestoßen werden, um diese Lücken zu schließen. Es wird empfohlen, den WBTi-Prozess alle 3–5 Jahre zu wiederholen. Wissenschaftliche Evidenz zu Veränderungen der nationalen Stillprogramme infolge des WBTi-Prozesses liegt derzeit nur in begrenztem Maß vor. In einer Studie von Lutter und Morrow konnte jedoch ein positiver Zusammenhang zwischen der WBTi-Punktzahl und dem ausschließlichen Stillen nachgewiesen werden [46]. In der Studie wurden 22 Länder in Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Lateinamerika ausgewertet, in denen im Zeitraum 1986–2010 mindestens 2 Assessments durchgeführt wurden: In Ländern mit einer WBTi-Punktzahl im oberen 50. Perzentil stieg die Rate des ausschließlichen Stillens im Median um 1,0% pro Jahr an, in Ländern mit den niedrigsten WBTi-Punktzahlen dagegen nur um 0,2% (p = 0,01).

22.6. Fazit und Ausblick

Der individuelle und gesellschaftliche Nutzen, der mit einer Verbesserung des Schutzes, der Förderung und der Unterstützung von optimalen Stillpraktiken einhergeht, ist eindeutig belegt [19]. Ebenso sind die wichtigsten Elemente für ein erfolgreiches Scaling-up nationaler Stillprogramme weitestgehend bekannt [13]. Doch trotz des umfassenden Wissens konnten bei der Verbesserung wichtiger Stillparameter, etwa der Rate des frühen Stillbeginns oder des ausschließlichen Stillens für 6 Monate, im Laufe der letzten Dekade nur relativ geringe Fortschritte erzielt werden. Die Kosten dieser Untätigkeit bzw. der mangelnden Umsetzung des Wissens in die Praxis belaufen sich jährlich auf Hunderte von Millionen Dollar – hier besteht dringender Handlungsbedarf [47].

Ein wichtiger Schritt zur Veränderung des Status quo bestand in der Entwicklung von Indikatoren, mit denen sich begünstigende Bedingungen und Fortschritte erfassen lassen, sowie von Schlüsselelementen, die für ein erfolgreiches nationales Scaling-up von Stillprogrammen erforderlich sind. Diese Bemühungen müssen jedoch noch verstärkt und in Rahmenkonzepte und Modelle eingebettet werden, welche die komplexen und nichtlinearen Beziehungen zwischen allen Schlüsselelementen abbilden. Denn erst dieses Zusammenwirken ermöglicht ein erfolreiches Scaling-up von Programmen zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens [16]. In diesem Kapitel wurde aufgezeigt, wie sich das AIDED-Modell und das darauf aufbauende BFGM als leistungsstarke konzeptionelle Modelle einsetzen lassen, um das Assessment begünstigender Faktoren und das nachfolgende Monitoring des Scaling-up auf ein neues Niveau zu heben. Hierfür ist es jedoch unerlässlich, dass die Ergebnisse prospektiver CAS-Forschung zum Scaling-up sowohl in bestehende Assessment-Instrumente als auch in CAS-basierte Tools eingebettet werden, die zurzeit speziell für politische EntscheidungsträgerInnen entwickelt werden. Diese Instrumente sollen fortan nicht nur der Datensammlung an sich dienen, sondern sie sollen sicherstellen, dass Assessment-Prozesse die wissenschaftlichen Belege hervorbringen, die EntscheidungsträgerInnen brauchen, um die notwendigen Investitionen und Maßnahmen zur Steigerung der Stillraten weltweit durchzusetzen. Aus Sicht der Entscheidungsfindung mangelt es vor allem an Daten zu den Kosten der einzelnen Schlüsselelemente, die für das erfolgreiche Scaling-up eines Stillprogramms erforderlich sind. In diesem Zusammenhang sollte es z. B. Staaten unbedingt ermöglicht werden, selbst zu ermitteln, wie viel es sie kosten würde, alle Zahnräder des BFGM bereitzustellen und ihren reibungslosen Betrieb zu gewährleisten. Ohne diese Informationen ist es dem Finanzministerium praktisch unmöglich, dem Gesundheitsministerium ein auf konkreten Einzelposten basierendes Budget für ein effektives nationales Stillprogramm zur Verfügung zu stellen. Es wird zwar bereits daran gearbeitet, die Kosten für ein Scaling-up von Aktivitäten zum Schutz, zur Unterstützung und zur Förderung des Stillens zu ermitteln [47], [48], doch es bleibt noch viel zu tun, bis EntscheidungsträgerInnen über das nötige Rüstzeug verfügen, um fundierte, evidenzbasierte Investitionsentscheidungen für ihre Programme treffen zu können. Die Art und Weise, wie Entscheidungen im Rahmen erfolgreicher Scaling-up-Prozesse von nationalen Stillprogrammen getroffen werden, ist in der Tat eine Fragestellung der Implementierungswissenschaft, an der mit hoher Priorität geforscht wird. Von den Ergebnissen dieser Forschung könnten viele andere Themen rund um die Gesundheit und Ernährung von Müttern und Kindern profitieren.

Abschließend lässt sich sagen, dass die Verbesserung der Aufnahme und des Scaling-up effektiver nationaler Stillprogramme für sämtliche Staaten oberste Priorität haben sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die CAS-Forschung unerlässlich. Sie gibt EntscheidungsträgerInnen umfassend validierte Tools für die partizipatorische Entscheidungsfindung an die Hand, mit denen sich der Ausgangsbedarf (einschließlich des finanziellen) im jeweiligen Land ermitteln und das Scaling-up vorantreiben lässt [13], [16]. Heutzutage stehen robuste systemische Rahmenkonzepte und Scaling-up-Modelle zur Verfügung, die die Bemühungen künftig erfolgreich lenken und mit entsprechenden Anpassungen auf andere Länder übertragen können [16]. Dies kann voraussichtlich dazu beitragen, den Rückgang der Investitionen in den Schutz, die Förderung und die Unterstützung des Stillens in verschiedenen Weltregionen umzukehren [49], [50] und so die gesundheitliche Chancengleichheit zu verbessern [51], was wiederum ein zentraler Grundsatz der nachhaltigen Entwicklungsziele ist.

Kernpunkte

  • Scaling-up bedeutet, den Zugang zu qualitativ hochwertigen Programmen zu erweitern, die aus neuen Technologien und Interventionen resultieren und darauf abzielen, die Gesundheit von weiten Teilen der Zielbevölkerung rasch und wesentlich zu verbessern. Eine derartige Intervention ist das Stillen, das kurz- wie langfristig erhebliche positive Auswirkungen auf Mütter, Säuglinge und die Gesellschaft insgesamt haben kann.

  • Ein erfolgreiches Scaling-up von Stillprogrammen erfordert eine starke Koordination verschiedener Aktivitäten zum Schutz, zur Förderung und zur Unterstützung des Stillens sowie sektoren- und fachübergreifende Teams und zuverlässige finanzielle Zusagen.

  • Um eine effektive Entwicklung und das bestmögliche Monitoring von Programmen im großen Maßstab zu ermöglichen, ist Implementierungsforschung notwendig Hierzu müssen sowohl die Positionen sämtlicher Stakeholder als auch die komplexen Wechselbeziehungen untersucht werden, die ein erfolgreiches Programm ausmachen.

  • Es wurden bereits diverse Instrumente entwickelt, die ein erfolgreiches Scaling-up von Stillprogrammen unterstützen; das neueste und zugleich umfassendste Beispiel ist das im Jahr 2017 gestartete Projekt Becoming Breastfeeding Friendly (http://bbf.yale.edu/) [52].

Prof. Dr. Rafael Pérez-Escamilla, PhD, ist Professor of Epidemiology & Public Health am Department of Social and Behavioral Sciences an der Yale School of Public Health. Er hat einen Masterabschluss in Food Science und einen PhD in Nutrition von der University of California in Davis. Mit seiner Forschung hat er weltweit zur Verbesserung des Schutzes, der Förderung und der Unterstützung des Stillens durch Initiativen innerhalb von Gesundheitseinrichtungen und gemeinwesenbasierte Interventionen beigetragen. Im Jahr 2015 wurde er mit dem JHL Patricia Martens Annual Award for Excellence in Breastfeeding Research ausgezeichnet.

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