Prof. Amy Brown, PhD, MSc
Zentrale Lerninhalte
Soziologische und kulturelle Faktoren, die die Einstellung der Mutter zum Stillen und den Stillerfolg beeinflussen
Unterschiedliche Einflüsse in Ländern mit hohem bzw. niedrigem und mittlerem Pro-Kopf-Einkommen
Schlüsselfaktor, der Mütter befähigt, eine fundierte Still-Entscheidung in Abhängigkeit von soziokulturellen Umständen zu treffen
Faktoren, die ein für das Stillen förderliches soziokulturelles Umfeld schaffen
Auf den ersten Blick könnte man das Stillen hauptsächlich im biologischen Kontext betrachten. In der Vergangenheit hat sich die Forschung tatsächlich eher auf Aspekte wie Milchbildung, Anlegen des Babys und Schmerzen konzentriert. Ein Großteil dieser frühen Forschung wurde von Personen mit medizinischem oder pflegerischem Hintergrund an Krankenhäusern oder im stationären Umfeld durchgeführt. Die Erforschung dieser Aspekte ist von höchster Bedeutung, vermittelt jedoch kein umfassendes Bild der Situation. Zudem trägt sie nicht zur Lösung von wesentlichen Problemen wie etwa den niedrigen Stillraten oder den suboptimalen Praktiken in vielen Ländern bei.
Das Stillen ist ein biologischer Vorgang und die Muttermilchbildung wird hormonell gesteuert. Ab dem 2. Schwangerschaftsdrittel werden kleine Mengen an Muttermilch gebildet. Unmittelbar nach der Entbindung, nach Abstoßen der Plazenta, setzt die reichliche Milchbildung ein. Die rasche Steigerung der Milchmenge wird durch den abrupten Anstieg des Prolaktin- und Oxytocinspiegels nach der Geburt angestoßen. Beide Hormone spielen auch weiterhin eine zentrale Rolle, indem sie sicherstellen, dass über die gesamte Stillzeit hinweg ausreichend Muttermilch gebildet wird. Bei jedem Saugen des Kindes kommt es zu einem Anstieg des Prolaktinspiegels [1]. Indessen hat sich die Muttermilchbildung in der Regel an die Bedürfnisse des Säuglings angepasst; je vollständiger die Brust entleert wird, desto mehr Milch wird gebildet, und umgekehrt [2].
Aus wissenschaftlicher Sicht dürften die meisten Mütter physiologisch in der Lage sein, ihr Kind mit Muttermilch zu versorgen. In manchen Fällen kann es jedoch vorkommen, dass Stillen nicht möglich oder nicht angezeigt (kontraindiziert) ist [3]. So benötigen etwa Säuglinge, die an Galaktosämie leiden, eine ganz spezielle Säuglingsmilchnahrung. Bei dieser Stoffwechselkrankheit fehlen dem Säugling die Enzyme, die zur Verdauung der Laktose und Galaktose in der Milch erforderlich sind. Mütter mit akuter Tuberkulose sollten sich von ihrem Säugling fernhalten, auch wenn das Risiko einer Übertragung über die Muttermilch gering ist. Mütter mit akuten Herpesbläschen um die Brustwarze sollten ebenfalls nicht stillen. Bestimmte Arzneimittel wie Lithium, Atropin und Jodide sind während der Stillzeit kontraindiziert, in der Regel lässt sich jedoch eine sichere Alternative finden [4].
Die häufigste unter den insgesamt relativ seltenen Störungen ist eine unterentwickelte Brustdrüse. Hiervon ist rund 1 von 1000 Müttern betroffen [5]. In diesen Fällen weist die Brust typischerweise während der Schwangerschaft oder nach der Entbindung kaum Veränderungen auf. Die Brüste sind in Länge und Breite von geringerer Fülle, liegen weit auseinander und weisen einen vergrößerten Warzenhof (Areola) auf. Betroffene Frauen bilden oftmals nur wenig Milch, auch wenn sie nach der Entbindung häufig stillen. In einer Studie bildeten 85% der betroffenen Mütter in der 1. Woche weniger als halb so viel Milch, wie ihr Säugling benötigte, wobei sich dies mit der Zeit besserte. Nach 1 Monat produzierten 55% der Mütter weniger als halb so viel Milch wie erforderlich, und bei 39% entsprach die gebildete Milchmenge vollständig dem Bedarf des Babys [6]. Bei anderen Erkrankungen, z. B. Schwangerschaftsdiabetes [7] und polyzystischem Ovar-Syndrom [8], ist unter Umständen mehr Unterstützung nötig, um Müttern zu einer ausreichenden Milchbildung zu verhelfen.
Diese Daten legen nahe, dass die Mehrheit der Frauen aus physiologischer Sicht in der Lage sein dürfte, ihr Kind zu stillen. Zurückblickend auf ihre Zeit als Stillberaterin in Simbabwe, wo sie mit Tausenden von Müttern zu tun hatte, stellte Morrison fest, dass weniger als 0,1% der Mütter nicht ausreichend Muttermilch bilden konnten [9]. Dies entspricht der zu erwartenden Häufigkeit einer unzureichenden Brustdrüsenentwicklung. In zahlreichen Regionen Afrikas und Asiens spiegelt dies den hohen Anteil an Frauen wider, die unmittelbar nach der Entbindung zu stillen beginnen. Dieser Anteil entspricht auch in etwa der Zahl der Mütter, die nach 6 und 12 Monaten weiterhin stillen.
Diese Zahlen entsprechen dagegen nicht den Stillerfahrungen zahlreicher Frauen in westlichen Kulturen. So liegen die Raten für begonnenes sowie für fortgesetztes Stillen in vielen Ländern des westlichen Kulturkreises deutlich niedriger. Während in Afrika, Asien und einigen südamerikanischen Regionen praktisch alle Frauen mit dem Stillen beginnen, ist dies im Vereinigten Königreich lediglich bei 81% und in den USA bei 77% der Mütter der Fall. Auch hinsichtlich der Stilldauer zeigen sich Unterschiede. Sechs Monate nach der Entbindung stillen nahezu alle Frauen in afrikanischen und asiatischen Ländern, während in den USA und in Australien nur die Hälfte aller Mütter und im Vereinigten Königreich lediglich ein Drittel der Mütter ihre Kinder zu diesem Zeitpunkt noch stillt [10]. Für diese Diskrepanz gibt es keinen plausiblen physiologischen Grund. Was nicht heißen soll, dass bei Frauen in diesen Regionen keine physiologischen Probleme auftreten. Vielmehr begründen sogar die meisten Frauen die Beendigung des Stillens damit, dass sie zu wenig Milch oder Schwierigkeiten mit dem Anlegen haben, oder dass ihnen das Stillen Schmerzen bereitet [11].
In Kulturen dagegen, in denen der Wissensstand zum Thema Stillen hoch ist und das Stillen eine breite Akzeptanz und Unterstützung erfährt, werden die oben genannten Probleme nur selten als Gründe für das Abstillen genannt. Im Rahmen einer anthropologischen Untersuchung wurden die Einflüsse auf das Stillen in einem Volksstamm in Ostafrika erforscht. Man stellte fest, dass alle Säuglinge mindestens 6 Monate lang, 90% mindestens 1 Jahr und 75% 2 Jahre lang gestillt wurden. Zu den Gründen, das Stillen vor Ablauf von 2 Jahren zu beenden, zählten u. a. Erkrankungen der Mutter, eine Schwangerschaft oder der Umstand, dass das Kleinkind in der Lage war, die Nahrung des Stammes zu sich zu nehmen. Eine unzureichende Milchbildung oder unüberwindliche Probleme waren schlichtweg kein Thema [12].
Folglich könnte man annehmen, dass Stillprobleme ein westliches Phänomen sind, dass Frauen im westlichen Kulturkreis die Fähigkeit verloren haben, ihre Babys zu stillen. Allerdings ist diese Veränderung historisch betrachtet relativ neu. Noch vor 150 Jahren stellte das Stillen überwiegend die Regel dar. Säuglinge wurden meist von der Mutter oder einer Amme gestillt. Mit dem Aufkommen der industriell hergestellten Säuglingsmilchnahrung Ende des 19. Jahrhunderts setzte jedoch ein Wandel des Verhaltens ein [13]. Natürlich kommt es im Laufe der Evolution zu physiologischen Veränderungen, wenn auch nur sehr langsam, wohingegen gesellschaftliche Entwicklungen sehr viel schneller ablaufen können. Einstellungen, übliche Verhaltensweisen und Wissen können sich rasch wandeln und sehr schnell verloren gehen.
Bemerkenswerterweise zeigt sich dieses Muster von niedrigen Stillraten nicht in allen Regionen des westlichen Kulturkreises. In den nordischen Ländern fangen nach wie vor fast alle Mütter an zu stillen und rund 3 Viertel stillen ihren Säugling über die ersten 6 Lebensmonate. Unterschiedliche Stillraten finden sich aber auch innerhalb von Regionen, und zwar nach einem Muster, das sich nicht durch geografische Faktoren erklären lässt. Im Vereinigten Königreich weisen die 4 Landesteile Unterschiede hinsichtlich Stillbeginn und Stilldauer auf: Unmittelbar nach der Entbindung stillen in England 83% der Mütter, in Schottland 74%, in Wales 71% und in Nordirland 64% [11].
Und nicht zuletzt unterscheiden sich die Stillraten sogar innerhalb eines Landesteils zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Ältere Mütter stillen tendenziell eher und auch über längere Zeit. Im Vereinigten Königreich stillen 87% der über 30 Jahre alten Mütter unmittelbar nach der Entbindung, jedoch nur 20% der Mütter im Alter unter 20 Jahren [11]. Dieses Muster ist weltweit ähnlich. Auch wenn in einem Land die Stillrate bei praktisch 100% liegt, sind es meist die jüngeren Mütter, die vergleichsweise früher abstillen [14]. Biologisch betrachtet ist es ideal, wenn eine Frau im jungen Alter Kinder bekommt. Man könnte zudem erwarten, dass ältere Mütter aufgrund ihrer nachlassenden Fruchtbarkeit und anderer möglicher Komplikationen mehr Probleme mit dem Stillen haben. Die Diskrepanz ist also nicht biologisch bedingt.
Die Stillraten unterscheiden sich auch deutlich je nach Bildungsniveau der Mutter. Je länger die Ausbildung der Mutter, desto eher wird sie mit dem Stillen beginnen und fortfahren. Im Vereinigten Königreich beginnen 91% der Mütter, die ihre Vollzeitausbildung im Alter von über 18 Jahren beenden, mit dem Stillen; bei Müttern, die ihre Vollzeitausbildung mit 16 Jahren oder früher abschließen, sind es lediglich 63%. Ein vergleichbares Muster findet sich auch bei der Berufstätigkeit: 90% der Mütter, die als Fach- oder Führungskräfte arbeiten, beginnen mit dem Stillen, verglichen mit 74% derjenigen, die Routinetätigkeiten und handwerkliche Berufe ausüben, und 71% der Mütter, die niemals berufstätig waren [11]. Diese Muster lassen sich weltweit beobachten. Der Bildungsstand ist auch in Entwicklungsländern ein Prädiktor für einen frühen Stillbeginn und ausschließliches Stillen [14]. Bildung hat keine Auswirkungen auf die weibliche Physiologie.
Stillmuster haben tiefer liegende Gründe, wobei sich je nach ethnischer Zugehörigkeit selbst innerhalb eines Landes erhebliche Unterschiede zeigen. Im Vereinigten Königreich stillen Frauen nicht weißer britischer Herkunft signifikant häufiger als weiße Frauen [11]. In den USA verhält es sich dagegen umgekehrt: Weiße Frauen stillen mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit als schwarze Frauen [15]. Ein weiterer Faktor ist hier der Grad der kulturellen Anpassung, auf den wir später in diesem Kapitel noch eingehen werden.
Diese Statistiken lassen angesichts der erheblichen nationalen und internationalen Unterschiede erkennen, dass es beim Stillen um mehr geht als um reine Physiologie. Es besteht zunehmend Konsens, dass das Thema Stillen im Rahmen eines systemischen gesundheitspolitischen Ansatzes anzugehen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, welche Bedeutung die Gesellschaft, die Kultur und das Umfeld für die stillende Mutter haben. Das Stillen ist mehr als nur ein physiologischer Vorgang – psychologische, soziale und kulturelle Aspekte können sich unmittelbar auf die Stillfähigkeit der Mutter auswirken, da sie das mütterliche Verhalten und Stillumfeld beeinflussen. In Victora et al. 2016 [10] heißt es:
„Die Gründe, aus denen Frauen das Stillen vermeiden oder beenden, reichen von medizinischen, kulturellen und psychologischen Faktoren bis hin zu körperlichen Beschwerden und Unannehmlichkeiten. Dies sind keine trivialen Probleme, und viele Mütter, die keine Unterstützung haben, greifen in diesem Fall auf die Flaschenfütterung mit Säuglingsmilchnahrung zurück. Rechnet man das auf globaler Ebene hoch und berücksichtigt die kommerziellen Interessen multinationaler Konzerne, so hat dies verheerende Auswirkungen auf die Stillraten und die Gesundheit nachfolgender Generationen.“
Die sozialen und kulturellen Probleme sind zahlreich und komplex, lassen sich jedoch grob 2 Themenbereichen zuordnen:
Direkte negative Einstellungen zum Stillen mit den jeweiligen Folgen und
subtilere Faktoren, die die Stillfähigkeit der Mutter untergraben, selbst wenn diese die Absicht und den Wunsch hat, ihr Kind zu stillen.
Manche dieser Faktoren sind offensichtlich: eine negative Haltung zum Stillen in der Öffentlichkeit, die Überzeugung, dass Flaschenkinder zufriedener sind, und Familienangehörige, die darauf drängen, an der Säuglingsfütterung teilzuhaben. Weniger offensichtliche Faktoren sind mangelnde Kenntnisse darüber, wie die Milchbildung funktioniert, der Wunsch, Einfluss auf Muster der Säuglingsernährung zu nehmen, aber auch religiöse oder kulturelle Einflüsse. Alle diese Faktoren können über Verhaltensweisen, die die Mutter vom ausschließlichen Stillen und/oder Stillen nach Bedarf abhalten, zu einer geringen Milchbildung führen.
Auch wenn die Milchbildung letztlich hormonell gesteuert wird, ist die Stillhäufigkeit für eine gute Milchbildung von entscheidender Bedeutung, da das kindliche Saugen einen Anstieg des Prolaktinspiegels bewirkt [1]. Die besten Ergebnisse zeigt das Stillen nach Bedarf (Responsive Feeding), d. h. wenn der Säugling signalisiert, dass er hungrig ist. Die Menge der gebildeten Milch hängt in erster Linie davon ab, wie häufig und wie vollständig die Brust entleert wird, entweder durch Stillen oder durch das Abpumpen/Ausstreichen von Muttermilch. Je vollständiger die Brust entleert wird, desto mehr Muttermilch wird vom Körper gebildet. Die Milchbildung lässt nach, sobald der Bedarf zurückgeht, bspw. wenn das Kind Säuglingsmilchnahrung über die Flasche erhält oder die Abstände zwischen den Stillvorgängen größer werden [16]. Der Körper ist also in der Lage, die Milchbildung individuell auf die Bedürfnisse des Säuglings abzustimmen. Säuglinge, die nach Bedarf gestillt werden, z. B. immer wenn sie Hunger signalisieren, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit auch weiterhin gestillt [17].
Auch wenn der Mechanismus zwischen Stillhäufigkeit und Milchbildung physiologisch bedingt ist, spielen gesellschaftliche und kulturelle Normen eine bedeutende Rolle im Hinblick auf den Stillerfolg. Dies liegt daran, dass das Stillen nach Bedarf tief im Wissen, in den Grundhaltungen und den Normen einer Gesellschaft verankert ist. In Ländern des westlichen Kulturkreises kommt es häufig vor, dass junge Eltern und Menschen, die diese unterstützen, die Bedeutung des Stillens nach Bedarf entweder nicht kennen oder durch das jeweilige Umfeld eher davon abgebracht werden. Dieses Abraten kann in voller Absicht und direkt oder eher subtil erfolgen, wobei den Beteiligten unter Umständen gar nicht bewusst ist, welchen Schaden sie damit anrichten. Das Umfeld hat Einfluss darauf, inwieweit ein Säugling nach Bedarf gestillt wird und, daraus folgend, wie viel Muttermilch produziert wird.
Beim Stillen handelt es sich somit um den Endpunkt eines physiologischen Vorgangs, dessen Erfolg jedoch auch durch zahlreiche soziale und kulturelle Aspekte bestimmt wird. Im Laufe der Zeit bildet sich gesellschaftlich und kulturell das Stillumfeld aus, das von der jungen Mutter übernommen wird. Die damit verbundenen Grundhaltungen und Normen können starken Einfluss auf die Mutter eines Neugeborenen haben. Allerdings sind diese nicht in Stein gemeißelt. Wie wir noch sehen werden, können sie sich verändern und haben dies in der Vergangenheit auch bereits getan. Um Mütter von Neugeborenen darin zu unterstützen, ihr Kind möglichst optimal zu stillen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass Problemstellungen erkannt und verstanden werden. Rollins (2016) [18] drückt es so aus:
„Für das Gelingen oder Misslingen des Stillens sollte nicht einzig die Frau verantwortlich gemacht werden. Ihre Fähigkeit zu stillen wird sehr stark durch ihr Umfeld und das Maß an Unterstützung bestimmt. Auf einer übergeordneten Ebene obliegt es der Regierung und der Gesellschaft, Frauen über politische Strategien und Programme vor Ort zu unterstützen.“
Ein wichtiger Indikator für eine bestimmte Art von Gesundheitsverhalten besteht darin, welchen Wert und welche Bedeutung das Individuum und die Gesellschaft insgesamt diesem Verhalten beimessen. Das gilt in hohem Maße auch für die Säuglingsernährung. Manche Menschen vertreten Überzeugungen, die von der Norm in ihrer Gesellschaft abweichen, aber zu diesen Überzeugungen sind sie dennoch als Teil dieser Gesellschaft gelangt. Meist wird diesen Personen bewusst sein, inwieweit ihre Einstellung und Entscheidung der Meinung der Mehrheit ent- oder widerspricht.
Die gesellschaftlich vorherrschende Haltung gegenüber dem Stillen hat in vielerlei Hinsicht Auswirkungen, sei es durch Informationsweitergabe, Reaktionen oder die Fähigkeit zur Unterstützung. Das Stillen gestaltet sich in einem Umfeld mit einer stillfreundlichen Einstellung leichter als in einem Umfeld mit einer ablehnenden Haltung, selbst wenn diese nicht offen kommuniziert wird. Mütter, die sich als Teil einer unterstützenden Gemeinschaft fühlen, in der andere Frauen stillen und bewusst zu ihrer Entscheidung stehen, stillen eher, selbst wenn sie jünger sind [26]. Hingegen geben viele Mütter an, dass das Füttern von Säuglingsmilchnahrung in ihrem Umfeld die Regel darstellt. Dies gilt vor allem für Frauen, die in sozial benachteiligten Gebieten leben [19].
Im westlichen Kulturkreis sind häufig verschiedene, für bestimmte gesellschaftliche Gruppen spezifische Haltungen gegenüber dem Stillen bekannt, wenn nicht sogar weit verbreitet. Diese beziehen sich auf die Muttermilch an sich, die weibliche Brust und auf den Akt des Stillens. Zudem wirken sich Haltungen gegenüber Säuglingsmilchnahrung unmittelbar auf Haltungen gegenüber dem Stillen aus, da beide häufig als gegensätzliche Optionen betrachtet werden. Diese Haltungen haben direkten Einfluss auf die Entscheidung von Frauen für oder gegen das Stillen oder die Frage, wann bzw. wie lange sie stillen, und damit potenziell auch auf das Füttern von Säuglingsmilchnahrung. Es überrascht nicht, dass eine negative Einstellung zum Stillen mit dem Rückgriff auf Säuglingsmilchnahrung einhergeht [20].
Sobald der Begriff Muttermilch fällt, denken viele sofort auch an das Wort Brust und seine Konnotationen. Für manche Menschen sind das Stillen und die sexuelle Natur der Brust untrennbar miteinander verbunden. Die Brust wird in den Medien so stark sexualisiert dargestellt (und so akzeptiert), dass sie häufig automatisch sexuelle Assoziationen hervorruft. Daran ist eigentlich nichts auszusetzen. Die Brust gehört zu den äußeren Geschlechtsmerkmalen des Körpers, und viele Frauen sind stolz auf das Aussehen ihrer Brüste.
Diese ausschließliche Konnotation der „zulässigen Funktion“ der Brust schädigt allerdings das Image des Stillens. Dies hat teilweise mit dem Entblößen zu tun. Während sich sexualisierte Darstellungen von Brüsten in jeder Zeitschrift und an jeder Ecke finden, ist die Brust in ihrer nährenden Funktion nur selten zu sehen. Hierdurch wird die automatische sexuelle Konnotation der Brust noch verstärkt, während ihre Assoziation mit dem Ernähren des Kindes geschwächt wird [21]. Jene, die die Brust am stärksten als sexuell konnotiert empfinden, sind gleichzeitig diejenigen mit der höchsten Intoleranz gegenüber dem Stillen [22]. Und jene, die sich in Gegenwart sexueller Reize generell unwohl fühlen, empfinden das Stillen deutlich stärker als unangenehm [23].
Die sexuelle Konnotation der Brust ist zumindest teilweise auf die fehlende Sichtbarkeit des Stillens in der Gesellschaft zurückzuführen. Laut einer Studie hat nur jeder 4. Jugendliche jemals eine stillende Frau gesehen [24], hingegen kann davon ausgegangen werden, dass diese Jugendlichen bereits unzähligen sexualisierten Darstellungen von Brüsten ausgesetzt waren. In den Medien werden stillende Frauen nur selten dargestellt, und wenn, dann handelt es sich hauptsächlich um Neugeborene weißer, gebildeter, älterer Frauen. Ein längerfristiges Stillen ist überhaupt nicht sichtbar. Es gilt als gesellschaftlich inakzeptabel und wird von anderen häufig als unangenehm empfunden [25]. Zudem wird in Situationen, in denen es um das Stillen geht, oftmals mit unangebrachtem Humor auf die sexuellen Aspekte des Stillens angespielt [26].
Eine Fokussierung auf die sexuelle Natur der Brust verstärkt Probleme mit der mütterlichen Körperwahrnehmung und wirkt sich nachteilig auf die Entscheidung für das Stillen aus. Häufig befürchten Frauen, insbesondere jüngere Mütter, dass das Stillen das Erscheinungsbild ihrer Brüste ruiniert oder dass Stillkleidung unattraktiv ist [27]. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Schwangere, die wegen der möglichen Auswirkungen des Stillens auf Form und Fülle ihrer Brust besorgt sind, wahrscheinlich noch nicht einmal planen, ihr Kind zu stillen [28]. Und obwohl die Forschung belegt, dass sich die Form der Brust infolge der Schwangerschaft – und nicht infolge des Stillens – verändert [29], besteht dieser Mythos fort.
Eine negative Konnotation der Muttermilch, häufig verknüpft mit der sexualisierten Wahrnehmung der Brust, ist auch mit einer negativen Einstellung gegenüber dem Stillen verbunden. Die (manchmal unbewusste) Vorstellung, dass Muttermilch als Körperflüssigkeit schmutzig oder kontaminiert sein müsse, ist weit verbreitet. Viele behaupten, dass Muttermilch für sie etwas ganz Normales und Gesundes sei, winden sich jedoch, wenn ihnen etwas davon zum Probieren angeboten wird. Andere zeigen ihre Abneigung deutlicher und vergleichen das Stillen an öffentlichen Orten mit dem Urinieren in der Öffentlichkeit – als ob beide Vorgänge in ihrer Intention vergleichbar wären.
Die Muttermilch nimmt unter den Körpersekreten eine einzigartige Stellung ein. Andere Körperabsonderungen transportieren häufig Krankheitserreger, zeigen Krankheiten an oder können schädlich für andere sein. All dies ist bei Muttermilch nicht der Fall. Manche Menschen unterscheiden jedoch nicht zwischen den einzelnen Körperflüssigkeiten und betrachten Muttermilch daher als verunreinigt. Im Allgemeinen werden Körperflüssigkeiten als etwas betrachtet, das kontrolliert und zurückgehalten werden muss. Beim Stillen jedoch findet gerade ein Austausch solcher Flüssigkeiten statt [30]. Eine Meinungsumfrage der Onlineplattform YouGov in Reaktion auf die Meldung, dass eine Frau ihr Baby in einem Schwimmbecken gestillt hat, erbrachte interessante statistische Ergebnisse. Während 65% der Befragten es für angemessen hielten, am Beckenrand zu stillen, fanden es lediglich 36% angemessen, im Becken selbst zu stillen. Dies lässt auf die Befürchtung schließen, dass Muttermilch andere Personen in irgendeiner Weise beschmutzen oder verunreinigen könnte [31].
Dies trägt zu den negativen gesellschaftlichen Konnotationen des Stillens und damit zur negativen Wahrnehmung des Stillens an sich bei. Frauen ist sehr wohl bewusst, dass ein offener Umgang mit ihrer Milch nicht erwünscht ist. Ihnen wurde beigebracht, sich ihrer sonstigen Körperflüssigkeiten, z. B. ihres Menstruationsbluts, zu schämen und diese zu verbergen [30]. Andere fühlen sich unwohl bei der Vorstellung, dass bei einer gemeinsamen Mahlzeit eine in ihren Augen potenziell schädliche Substanz gefüttert wird. Dies wiederum führt zu Unbehagen bei Müttern, die ihr Kind stillen möchten. Aufklärung ist hier der Schlüssel. Schließlich haben viele Menschen mit einer ablehnenden Haltung zu Muttermilch überhaupt nichts gegen die Milch einer anderen Säugetierart in ihrem Kaffee oder Tee.
In den vorigen Abschnitten ging es um die Wahrnehmung der Brust als Sexualobjekt und der Muttermilch als Schadstoff. Beides trägt unmittelbar zu der negativen Einstellung der Gesellschaft gegenüber dem Stillen in der Öffentlichkeit bei. Im Vereinigten Königreich darf laut dem Equality Act for England and Wales (Gleichstellungsgesetz für England und Wales) des Jahres 2010 keine Frau diskriminiert werden, weil sie ihr Kind stillt. In Schottland dürfen Frauen nicht daran gehindert werden, ihr Kind (sofern dieses jünger als 2 Jahre ist) an einem öffentlichen Ort zu stillen. Weltweit gelten ähnliche gesetzliche Regelungen, u. a. in einigen Regionen der USA, in Kanada, Australien und Europa. Allerdings betrachten Einzelpersonen öffentliche Räume häufig als „ihren” Bereich und sind der Auffassung, dass sie direkt oder indirekt bestimmen können, was darin vorgeht [32].
Der gesetzlich verbriefte Schutz hindert also viele Menschen nicht daran, an der negativen Einstellung festzuhalten, Frauen sollten in der Öffentlichkeit nicht stillen. Laut einer weltweiten Umfrage vertritt eine Mehrheit der Bevölkerung die Meinung, dass Babys idealerweise gestillt werden sollten. Gleichzeitig war aber ein Drittel bis die Hälfte der Befragten der Auffassung, dass Frauen nicht in der Öffentlichkeit stillen sollten. Die negativen Einstellungen waren in den USA am stärksten verbreitet, gefolgt von Frankreich. Andere waren dem Stillen gegenüber positiver eingestellt, vertraten jedoch die Ansicht, dass es in der Öffentlichkeit angemessener sei, dem Baby die Flasche zu geben [33].
Untersuchungen, in denen die Einstellungen länderübergreifend verglichen wurden, ergaben ebenfalls erhebliche Unterschiede in Bezug auf die Raten. In einer Studie zur Untersuchung der Haltungen in europäischen Ländern sprachen sich 56% der Befragten in Italien und 42% in Spanien gegen das Stillen in der Öffentlichkeit aus, in Schweden dagegen nur 8% der Befragten [34]. In den USA vertraten nur 43% der Befragten die Auffassung, Frauen hätten das Recht, in der Öffentlichkeit zu stillen [35]. Dies schlägt sich in den Stillraten der jeweiligen Länder nieder: Schweden weist mit die höchste Rate aller Länder des westlichen Kulturkreises auf, die USA dagegen eine der niedrigsten.
Andere wiederum stehen dem Stillen zwar nicht ablehnend gegenüber, geben jedoch an, dass es ihnen ein unangenehmes Gefühl vermittele [36]. Manche machen die Einschränkung, dass das Stillen in der Öffentlichkeit vertretbar sei, sofern die Frau dabei diskret vorgehe und die Gefühle anderer respektiere [37]. Letztlich scheinen viele die Situation so zu betrachten, dass ihr eigener Wunsch demjenigen von Müttern entgegensteht. In Wirklichkeit sollte es jedoch so gesehen werden, dass ihr Wunsch dem des Säuglings gegenübersteht.
Schließlich sind einige zwar der Ansicht, dass das Stillen in der Öffentlichkeit unvermeidlich ist und toleriert werden sollte, lehnen es jedoch ab, wenn das Stillen „unnötigerweise“ bildlich dargestellt wird. Beispielsweise hält es nur ein Viertel der US-amerikanischen Bevölkerung für angemessen, eine stillende Mutter im Fernsehen zu zeigen [35]. Eine weitere Studie hat ergeben, dass nur 48% der Männer eine stillende Frau auf der Titelseite einer Zeitschrift und nur 37% eine stillende Frau auf einer Reklametafel oder einem Poster für angemessen hielten. Die Darstellung einer stillenden Frau in einer Familiensendung im Fernsehen fanden 46% als angebracht [38]. Die Darstellung des Stillens in den Medien bildet diese Haltungen häufig ab. Stillende Frauen werden im Fernsehen, wenn überhaupt, häufig in ihrer häuslichen Umgebung gezeigt. Dabei weisen bestimmte Signale, etwa das Tragen von Nachtwäsche während des Stillens, darauf hin, dass es sich um eine private Angelegenheit handelt und die Frau sich nicht im öffentlichen Raum befindet [39].
Laut der Mehrzahl der Studien sind Haltungen zum Stillen altersabhängig. Am offensten gegenüber dem Stillen in der Öffentlichkeit zeigen sich jene, die selbst kleine Kinder haben, sowie ältere Menschen. Jugendliche und Studierende vertreten in der Regel die negativsten Ansichten. In einer kanadischen Studie waren knapp 80% der College-Studierenden der Auffassung, das Stillen sei ein intimer Akt, der ins Reich des Privaten gehöre [37], und in den USA hielt nur ein Drittel der Studierenden das Stillen in der Öffentlichkeit für akzeptabel [40]. In Quebec vertrat ein Viertel der weiblichen Teenager die Ansicht, das Stillen in der Öffentlichkeit zeige mangelnden Respekt gegenüber anderen, und ein Drittel hielt es für wichtig, dass die Brüste nicht zu sehen sind, wenn eine Frau in der Öffentlichkeit stillt [41]. Die Einstellungen unterscheiden sich auch nach Geschlecht. Im Allgemeinen zeigen Männer tatsächlich eine etwas positivere Haltung gegenüber dem Stillen in der Öffentlichkeit als Frauen [35], und Männer, die selbst Väter sind, zeigen sich eher aufgeschlossen als kinderlose Männer. In einer US-amerikanischen Studie äußerten lediglich 16 % der Väter Vorbehalte gegen das Stillen in der Öffentlichkeit [38].
Warum ist das Stillen in der Öffentlichkeit negativ belegt? Die Wahrnehmung der Brust als Sexualobjekt und der Muttermilch als potenziell kontaminierend ist allgemein verbreitet, aber auch Ansichten über die Funktion des weiblichen Körpers spielen eine Rolle.
Frauen im westlichen Kulturkreis sollen attraktiv sein und als sexuell verfügbar wahrgenommen werden. Der weibliche Körper wird in der Populärkultur häufig in sexualisierter Form eingesetzt, eingebettet in frauenverachtende Botschaften, die das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper in Frage stellen [42]. Bei manchen Personen löst der Anblick einer stillenden Frau Ressentiments aus: Die Frau setzt einen Teil ihres Körpers, auf den diese Personen selbst den alleinigen Anspruch erheben, ein, um ein Baby zu nähren. Damit wird ihnen suggeriert, dass die Aufmerksamkeit der Frau nicht ihnen allein gilt [43]. Andere fühlen sich durch Frauen provoziert, die aus der Rolle der „anständigen Frau“ ausbrechen, und stellen diese als albern, irritierend und unausstehlich dar (insbesondere dann, wenn sie durch Proteste und Feierlichkeiten auf das Stillen aufmerksam machen) [44].
Es mag weit hergeholt erscheinen, aber Sexismus und die Ablehnung des Stillens in der Öffentlichkeit sind eng miteinander verknüpft. Männer mit einer ausgeprägt sexistischen Haltung werden das Foto einer öffentlich stillenden Frau eher nicht gutheißen [22]. Männlicher Sexismus lässt sich grob in 2 Formen unterteilen. Bei der ersten Form handelt es sich um feindseligen Sexismus, d. h. eine direkte Abneigung gegen Frauen und den Glauben an Männlichkeitsideologien. Die zweite Form besteht in einem „wohlwollenden“ Sexismus, bei dem Männer Frauen zwar mögen, aber davon überzeugt sind, dass diese beschützt werden müssen und weniger zu leisten vermögen als Männer. Männer, die in hohem Maße feindselig-sexistisch sind, haben eine negative Einstellung zum Gebären und zum Stillen [45]. Auch wenn extrem wohlwollend-sexistische Männer das Stillen befürworten, weil die Frau damit ihrer traditionellen weiblichen Rolle entspricht [23], stehen sie öffentlich stillenden Frauen ablehnend gegenüber, weil diese damit aus ihrer Rolle als „anständige Frau“ ausbrechen [22].
Die gesellschaftlichen Einstellungen zum Stillen wirken sich auf die Entscheidungen einer Mutter aus. In Ländern, in denen das Stillen in der Öffentlichkeit die größte gesellschaftliche Zustimmung erfährt, sind auch die Stillraten tendenziell am höchsten. Dies hat zyklische Auswirkungen. Je mehr das Stillen in der Öffentlichkeit sichtbar ist, desto normaler und akzeptierter wird es, und umgekehrt. Die Forschung zeigt, dass junge Mütter häufig mit negativen Einstellungen gegenüber dem öffentlichen Stillen konfrontiert sind. Eine im Vereinigten Königreich von einer Elternzeitschrift durchgeführte große Umfrage hat ergeben, dass 60% der Mütter das Land nicht als stillfreundlich empfanden; 65% fühlten sich beim Stillen in der Öffentlichkeit gestresst und 54% berichteten über direkte negative Kommentare oder Handlungen [46]. Darüber hinaus hatten laut dem UK Infant Feeding Survey (2010) 85% der stillenden Mütter den Eindruck, dass stillende Frauen von der Gesellschaft nicht gerne gesehen werden, und 68% waren der Überzeugung, Säuglinge mit der Flasche zu füttern sei die kulturelle Norm [11].
Verständlicherweise gehen Vorbehalte gegen das Stillen in der Öffentlichkeit, ob aus Befangenheit, Scham oder Angst, mit einer kürzeren Gesamtstilldauer einher. Viele junge Mütter haben Angst, auf das Stillen angesprochen zu werden. Andere fürchten die stumme Missbilligung und (ablehnenden) Blicke der anderen. Laut den Ergebnissen des UK Infant Feeding Survey von 2010 fühlten sich nur 8% der stillenden Mütter wohl dabei, überall dort zu stillen, wo sie wollten, und die Mehrheit fühlte sich befangen. Daher stillen im Vereinigten Königreich nur rund 50% der Frauen 6 Wochen nach der Geburt noch in der Öffentlichkeit, verglichen mit 80% der Mütter in Schweden. Als Grund wird häufig ein Unbehagen angegeben, in der Öffentlichkeit zu stillen [11].
Andere Frauen haben das Gefühl, sie müssten „sozialverträglich” stillen. Dies bedeutet, dass Mütter ungeachtet des gesetzlich verbrieften Schutzes Bedenken haben, in der Öffentlichkeit zu stillen, und daher nur äußerst diskret oder in einem geschützten Bereich stillen [47]. Manche Frauen pumpen möglicherweise auch Muttermilch ab, um das Stillen in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Das Abpumpen von Muttermilch kann jedoch zeitaufwendig und schwierig sein. Manche Frauen stellen fest, dass sie nur geringe Mengen abpumpen können [48]. Darüber hinaus akzeptieren manche Säuglinge keine Flasche, da diese anders geformt ist als die Brust [49]. Wieder andere Frauen versuchen, die Zeitabstände zwischen den Stillmahlzeiten auszudehnen, was sich wiederum negativ auf die Milchbildung auswirken kann [16].
Die Wahrnehmung von Säuglingsmilchnahrung steht zwar mit der Einstellung zu Muttermilch in Zusammenhang, unterscheidet sich aber von dieser, insbesondere im Hinblick auf die vermuteten Auswirkungen auf den kindlichen Schlaf. Sehr verbreitet ist die Vorstellung, dass Babys, die Säuglingsmilchnahrung erhalten, zufriedener und ruhiger sind, weniger häufig gefüttert werden müssen und nachts besser schlafen [50]. Hier klingt stark die westliche kulturelle Norm durch, dass Säuglinge ruhig und „brav“ sein sollten. Diese Vorstellungen spiegeln sich in der Darstellung des Fütterns von Säuglingsmilchnahrung in den Medien wider: Das Stillen wird in Fernsehbeiträgen häufig als kompliziert dargestellt. Im Gegensatz dazu wird die Flaschenfütterung generell als normal, unproblematisch und als ein Vorgang präsentiert, an dem andere Menschen teilhaben können, insbesondere Väter [26].
Im Allgemeinen trinken Stillkinder ab der ersten Lebenswoche häufiger, unregelmäßiger und länger als Säuglinge, die Säuglingsmilchnahrung erhalten [51]. Bei Säuglingen, die mit Säuglingsmilchnahrung gefüttert werden, sind einzelne, abgegrenzte Stillmahlzeiten eher die Regel als mehrere kurze Stillmahlzeiten hintereinander (Cluster-Feeding) [52]. Bei Stillkindern liegt die Zahl der Mahlzeiten bei 8–12 je 24 Stunden; Säuglinge, die Säuglingsmilchnahrung erhalten, benötigen u. U. nur 6–8 Mahlzeiten [53]. Die Muttermilch ist kein gleich bleibendes Produkt. Ihre Energiedichte verändert sich im Laufe eines Stillvorgangs sowie im Tagesverlauf [54]. Wachstumsschübe können auch zu veränderten Fütterungsmustern mit häufigeren Milchmahlzeiten vor und während eines Wachstumsschubs führen [51]. In Kulturen, in denen Säuglinge normalerweise mit herumgetragen werden und bei der Mutter schlafen, trinken die Kinder mehrmals pro Stunde und auch nachts [55].
Diese Unterschiede lassen sich zum Teil dadurch erklären, dass Muttermilch deutlich schneller verdaut wird als Säuglingsmilchnahrung [56]. Allerdings nehmen Säuglinge, die Säuglingsmilchnahrung erhalten, eine größere Menge Milch pro Mahlzeit zu sich [57], trinken schneller, nehmen die Milch schneller auf und machen zwischen dem Saugen weniger Pausen [58]. Hierfür sind u. a. Unterschiede im Fütterungsmechanismus verantwortlich. Das Füttern mit der Flasche erfordert nur einen einfachen Saugvorgang, während das Stillkind korrekt an die Brust angelegt werden muss [59]. Daher lässt sich ein Flaschenkind eher dazu bringen, mehr Milch zu trinken als ein Stillkind. Untersuchungen zeigen, dass Flaschenkinder bei entsprechender Ermunterung durchschnittlich noch einmal 10% mehr Milch aufnehmen [60].
Ein Hauptunterschied zwischen dem Stillen und dem Füttern von Säuglingsmilchnahrung besteht vor allem darin, dass das Stillen reaktiv auf das häufige Trinkbedürfnis des Säuglings erfolgen muss, um eine ausreichende Milchbildung zu gewährleisten. Wenn Stillmahlzeiten ausgelassen oder ersetzt oder die Zeitabstände zwischen den Stillmahlzeiten ausgedehnt werden, kann es zu einer verringerten Milchproduktion kommen. Dieses Problem ergibt sich bei Säuglingsmilchnahrung nicht. Das Stillen nach Bedarf geht mit einer rascheren Bildung reifer Muttermilch [61], einem geringeren Gewichtsverlust nach der Entbindung [62] und einer höheren Milchbildung einher [63]. Umgekehrt kann der Versuch, die Stillmahlzeiten zu reduzieren oder zu festen Zeiten zu stillen, zu einer abnehmenden Milchbildung [64], zu Stillproblemen [50] und zum Abstillen führen [65].
Was den Schlaf betrifft, so ist nächtliches Aufwachen im 1. Lebensjahr und darüber hinaus völlig normal, ungeachtet der verbreiteten Vorstellung, dass dem nicht so sei. Zwischen 30 und 80% der Babys wachen im ersten Lebensjahr immer wieder nachts auf, und zwar durchschnittlich 1–2-mal pro Nacht [66], [67]. In den meisten nicht westlichen Kulturen ist es normal, dass Mutter und Kind nah beieinander schlafen [68]. Dass der Säugling allein schläft, ist ein westliches Phänomen und weltweit betrachtet eher selten. Das nächtliche Aufwachen schützt den Säugling möglicherweise vor dem plötzlichen Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome, SIDS) [69]. Das Schlafen in unmittelbarer Nähe der Mutter wirkt sich auf das Verhalten und die Physiologie des Säuglings aus. Babys, die im Krankenhaus nachts bei ihrer Mutter liegen, schlafen entspannter als Babys in einem Säuglingszimmer [70]. Durch das Schlafen nahe bei der Mutter regulieren sich die Körpertemperatur [71], die Herzfrequenz [72] und die Atmung des Kindes [73].
Nächtliches Füttern ist auch aus anthropologischer Sicht vollkommen normal. Beobachtungsstudien in ursprünglichen Kulturen zeigen, dass Säuglinge (die in der Regel bei der Mutter schlafen) im Durchschnitt 4-mal pro Nacht an der Brust trinken [12]. Säuglinge können bis zur Hälfte der täglich getrunkenen Milchmenge während der Nacht aufnehmen [74]. Dabei steigt der Anteil im Kleinkindalter, wenn die Kinder tagsüber aktiver und eher abgelenkt sind [75]. Dies gilt als vollkommen normal und wird nicht als Umstand gewertet, der beobachtet oder als Problem betrachtet werden müsste [55].
In der westlichen Kultur verstehen viele Menschen nicht, dass häufiges Stillen und Aufwachen in der Nacht normal sind, und befürchten, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn Stillkinder nach diesem üblichen Muster trinken. Andere halten es für umständlich und unvereinbar mit dem eigenen Lebensstil oder sind der Überzeugung, das Stillen sollte nach einem von der Mutter festgelegten Zeitplan erfolgen [50]. Außerdem gibt es die Überzeugung, dass das Füttern von Säuglingsmilchnahrung und frühe Einführen von Beikost einen tieferen Schlaf fördere. In der frühen Lebensphase schlafen Säuglinge, die Säuglingsmilchnahrung erhalten, zunächst länger durch und trinken nachts weniger häufig [76]. Allerdings verändert sich das Muster auf längere Sicht. Untersuchungen mit etwas älteren Säuglingen zeigen, dass die Art und Weise der Säuglingsernährung – sowohl hinsichtlich der Art der Milch als auch hinsichtlich der Häufigkeit der Beikostfütterung – keinen Einfluss darauf hat, wie oft Säuglinge nachts aufwachen [66].
Das Aufwachen des Säuglings ist nicht der einzige Prädiktor für den mütterlichen Schlaf. Studien zur Untersuchung der Schlafdauer bei stillenden und Säuglingsmilchnahrung fütternden Müttern zeigen, dass Mütter, die stillen, insgesamt mehr Schlaf bekommen. Säuglinge, die Säuglingsmilchnahrung erhalten, mögen weniger häufig aufwachen. Allerdings bringen der Zeitaufwand für das Vorbereiten der Flasche und die Zeit, bis das Kind wieder in den Schlaf gefunden hat, einen stärkeren Schlafentzug mit sich [77].
Stillkinder sind außerdem nachts weniger unruhig. Stillkinder schnarchen, schnaufen oder husten im Schlaf weniger und haben nachts seltener Atemprobleme, was Mütter ruhiger schlafen lässt [78]. Das Co-Sleeping, also das Schlafen von Mutter und Kind nah beieinander, und das Stillen sind eng miteinander verknüpft. In einer Studie wurden 3–4 Monate nach der Geburt doppelt so viele Säuglinge gestillt, die bei der Mutter schliefen, als solche, die allein schliefen [79]. Dies könnte zum Teil daran liegen, dass Säuglinge beim Co-Sleeping während der Nacht doppelt so häufig trinken wie Babys, die separat schlafen [80]. Die Überzeugung, Säuglinge sollten zur Entwicklung eines strikteren Fütterungs- und Schlafmusters angehalten werden, konnte dadurch aber nicht überwunden werden. Bedauerlicherweise ist der Versuch, Stillkinder zur Entwicklung einer Routine zu animieren, mit einer kürzeren Gesamtstilldauer verbunden [65]. Versuche, in gleichbleibenden Abständen zu stillen, führen häufig zu Problemen [50] oder einer Beendigung des Stillens [17].
Außerdem wissen wir, dass eine Versorgung nach den kindlichen Bedürfnissen eine zentrale Rolle für die Entwicklung des Säuglings spielt [81]. Babys, die sich durch die Hauptbezugsperson sicher versorgt fühlen, erreichen in der Kindheit und im weiteren Verlauf des Lebens in sozialer, bildungsbezogener und emotionaler Hinsicht bessere Ergebnisse als Babys, denen diese Art der Sicherheit fehlt [82]. Mütter, die sensibel und umgehend auf die Signale ihres Babys eingehen, haben eine positivere Bindung zu ihrem Kind [83], und die Säuglinge erholen sich schneller von negativen Erfahrungen [84]. Wenn die Mutter dagegen ihren Säugling über längere Zeit schreien lässt, kann es zu einem Anstieg des Stresshormonspiegels [85] mit möglichen negativen Auswirkungen auf die Hirnentwicklung kommen [86]. Diese frühen Erfahrungen sind von zentraler Bedeutung. Ein über längere Zeit erhöhtes Stressniveau im frühen Säuglingsalter führt letztlich zur Überstimulation des Nervensystems [87].
Die Auffassungen, dass Babys ruhig sein sollten und Flaschennahrung eine Art Allheilmittel darstellt, sind tief verankert in den allgemeinen Vorstellungen darüber, wie Babys zu ernähren sind, aber auch in Familientraditionen und in der Einstellung gegenüber der Sichtbarkeit des Stillens und der Muttermilch. Sie sind außerdem eng verbunden mit unseren allgemeineren Vorstellungen darüber, wie wir junge Mütter betrachten, behandeln und wertschätzen.
Die Entscheidung, zu stillen oder Säuglingsmilchnahrung zu füttern, trifft eine Mutter nicht isoliert, sondern im Rahmen ihrer weitreichenderen Erfahrung mit der Versorgung ihres Säuglings. Die oben beschriebenen Einstellungen zum Stillen, zur Muttermilch und zur Säuglingsmilchnahrung, aber auch ihre Erfahrungen als Mutter, haben allesamt Einfluss auf ihre eigenen Haltungen und Entscheidungen.
Die Erfahrung der Mutterschaft in der modernen westlichen Kultur unterscheidet sich grundlegend von derjenigen früherer Generationen oder anderer Kulturen. In der Regel sind Mütter heutzutage isoliert und verfügen nicht über ein Unterstützungsnetzwerk. Viele Mütter leben auch nicht mehr in der Nähe ihrer Ursprungsfamilie. Und da Frauen generell weniger und später Kinder bekommen, sammeln sie keinerlei Erfahrungen mit der Versorgung eines Neugeborenen, bis sie selbst Mutter werden. In einer Studie zur Untersuchung der Erfahrungen junger kinderloser Frauen hatten 3 Viertel noch nie ein Neugeborenes gehalten, und lediglich ein Fünftel hatte jemals auf ein Kleinstkind aufgepasst, diesem die Flasche gegeben oder die Windeln gewechselt [88].
Mutter zu werden kann somit ein regelrechter „Kulturschock“ sein. Junge Eltern müssen sich oftmals abrupt von einer Situation der Unabhängigkeit mit wenigen Fürsorgepflichten auf die Verantwortung für ein Neugeborenes und dessen Versorgung rund um die Uhr umstellen. Ältere Mütter mit höherem Bildungsniveau empfinden diese Umstellung als besonders hart. Viele von ihnen geben an, ihre Kinder zu lieben, den Verlust ihrer früheren Identität und Lebensweise jedoch zu bedauern [89]. Manche geben ihre Berufstätigkeit auf und betrauern den Verlust ihrer beruflichen Identität und finanziellen Sicherheit; andere versuchen, ihr früheres Berufsleben mit der Versorgung ihres Säuglings zu vereinbaren. In zahlreichen Forschungsberichten und Schlagzeilen geht es um genau dieses Problem sowie um das hohe Maß an Stress, Ängsten und Erschöpfung, unabhängig davon, welche Entscheidung die Frau trifft.
Es überrascht daher wenig, dass sich viele junge Mütter mit dieser Umstellung überfordert sehen, sich nicht auf die neuen Lebensumstände vorbereitet fühlen, unter Schock stehen und unter Ängsten leiden [90]. Väter empfinden dies ähnlich, jedoch typischerweise in einem geringeren Ausmaß als Mütter, die den Großteil der Verantwortung schultern [91]. Maushart (2006) [92] beschreibt diesen Übergang zur Mutterschaft als „die gewaltigste aller biologischen Leistungen, die gleichzeitig zu den sozialen Erfahrungen mit dem stärksten Gefühl der Ohnmacht zählt“. Daher sollte es niemanden erschüttern, dass viele junge Mütter mit der Veränderung ihrer Lebensumstände nicht glücklich sind und einige deswegen in eine postpartale Depression abgleiten.
Die Häufigkeit der postpartalen Depression nimmt in den Ländern des westlichen Kulturkreises stetig zu. Daten lassen darauf schließen, dass rund 15% der Mütter von Neugeborenen an einer postpartalen Depression leiden, wobei die tatsächliche Zahl höher liegen dürfte. Viele Betroffene wenden sich nicht an Gesundheitsdienste, weil sie sich Sorgen im Hinblick auf die möglichen Folgen machen oder nicht mit Unterstützung rechnen. Die physiologischen Ursachen der postpartalen Depression sind unklar; zahlreiche Krankheitsmodelle stellen psychische, soziale und kulturelle Faktoren in den Mittelpunkt. Mangelnde familiäre Unterstützung, Unzufriedenheit mit der Beziehung und Isolation tragen in wesentlichem Maße zum beeinträchtigten Wohlbefinden der Mutter bei. Ein wichtiger Faktor ist jedoch auch der „Kulturschock“ durch die neue Verantwortung und veränderte Lebensführung, die mit der Mutterschaft einhergehen. Auch Trauer kann eine zentrale Rolle spielen, da sich die Mutter darauf einstellen muss, ihr bisheriges Leben aufzugeben und große Verantwortung für ein neues Leben zu übernehmen. Mütter, die in dieser Situation auf sich selbst gestellt sind, haben ein höheres Risiko, an einer postpartalen Depression zu erkranken [93].
Die postpartale Depression ist überwiegend ein westliches Phänomen. Zwar treten Episoden dieser postpartalen Erkrankung weltweit in vielen Kulturen auf, doch ist ihre Häufigkeit weit geringer. Auch im gesellschaftlichen und kulturellen Umgang mit den betroffenen Müttern zeigen sich Unterschiede. Im westlichen Kulturkreis ist die postpartale Depression mit einem Stigma behaftet, und die betroffenen Mütter befürchten, als „schlechte Mutter“ wahrgenommen zu werden. Im Mittelpunkt der Behandlung stehen meist die Gabe von Medikamenten und psychotherapeutische Ansätze. Viele der sozialen und kulturellen Faktoren, die das Risiko einer postpartalen Depression erhöhen, werden dagegen wenig beachtet. Es ist vorstellbar, dass die postpartale Depression in westlichen Kulturen größtenteils eine normale Reaktion auf die fehlende emotionale und praktische Unterstützung ist, die junge Mütter eigentlich benötigen [94]. Beispielsweise sind Schlafentzug [95] und das Schreien des Säuglings [96] ebenso mit einem erhöhten Risiko einer postpartalen Depression verbunden, wie Gefühle von Identitätsverlust [97]. Mütter sollten bei der Versorgung ihres Neugeborenen unterstützt werden, damit sie nicht in einen Zustand der Erschöpfung geraten.
Zwischen postpartaler Depression und Stillen besteht ein komplexer Zusammenhang. Mütter, die insgesamt am längsten stillen, leiden am wenigsten an einer postpartalen Depression. Möglicherweise steigt mit der Fähigkeit, länger zu stillen, auch das mütterliche Wohlbefinden. Umgekehrt können Stillprobleme und das Gefühl, nicht stillen zu können, das Risiko einer postpartalen Depression erhöhen. Schmerzen und Schwierigkeiten beim Anlegen sind mit einem erhöhten Risiko einer postpartalen Depression assoziiert [98]. Allerdings werden diese negativen Gefühle häufig auf die Säuglingsernährung zurückgeführt. Im westlichen Kulturkreis kursieren viele Vorurteile über die Auswirkungen des Stillens auf das Säuglingsverhalten. Das Stillen wird häufig als die Ursache der Probleme betrachtet, da Säuglinge, die Säuglingsmilchnahrung erhalten, als zufriedener wahrgenommen werden [50]. Das Füttern des Säuglings nimmt generell sehr viel Zeit in Anspruch, unabhängig von der gewählten Methode. Für etwaige Probleme wird daher gerne die Säuglingsernährung verantwortlich gemacht [99].
Vielleicht sind es aber auch die allgemeinen Rahmenbedingungen, die die Wahrscheinlichkeit sowohl einer postpartalen Depression als auch einer kürzeren Gesamtstilldauer erhöhen. Ein zentraler Aspekt ist das Temperament des Säuglings. Säuglinge von Müttern mit einer postpartalen Depression weisen mit höherer Wahrscheinlichkeit ein schwieriges Temperament auf, was manchmal jedoch eher eine Frage der Wahrnehmung als des tatsächlichen Säuglingsverhaltens sein könnte [100]. Mütter mit postpartaler Depression haben auch häufiger den Eindruck, dass ihr Kind übermäßig viel schreit, und finden es schwieriger, Einfluss auf das Säuglingsverhalten zu nehmen, als symptomfreie Mütter [101].
Die Symptome einer postpartalen Depression können auch das Stillen erschweren. Von einer postpartalen Depression betroffene Mütter interagieren anders mit ihrem Baby, insbesondere in Bezug auf ihre Responsivität. Depressive Mütter interagieren weniger mit ihren Neugeborenen als nicht depressive Mütter; sie berühren diese seltener, reagieren weniger sensibel auf deren Bedürfnisse und haben weniger Hautkontakt [102]. Sie halten ihr Baby oftmals auch weniger intuitiv und klagen häufiger über Probleme mit dem Anlegen, und folglich über eine geringe Milchbildung [103].
Der Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzen und dem Risiko einer Depression beruht eher auf physiologischen Prozessen [104]. Andere Faktoren können das Risiko einer Depression zusätzlich erhöhen, indem sie sich auf das Immunsystem auswirken. Bei Schlafmangel, Stress und Schmerzen kommt es zu einem Anstieg von Zytokinen. Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Depression aufgrund eines gesteigerten Stresshormonspiegels [105]. Stresshormone können die Ausschüttung von Prolaktin hemmen, was sich negativ auf den Milchspendereflex auswirken kann [106]. Experimentelle Studien zeigen, dass die Oxytocinspiegel bei stillenden Frauen, die einer Stressbelastung (Denksportaufgaben, Lärm) ausgesetzt sind, nur halb so hoch sind wie bei Frauen ohne Stressbelastung [107]. Eine Unterstützung der Mütter durch Entspannungsübungen führt hingegen zu einem Anstieg der abgepumpten Milchmenge [108].
Erwartungshaltungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Bei Müttern, die davon ausgingen, dass das Stillen einfach und problemlos funktionieren würde, war das Risiko einer postpartalen Depression höher als bei Frauen, die auf gewisse Schwierigkeiten eingestellt waren [109]. In der Tat ist die Stillabsicht ein stärkerer Prädiktor für eine postpartale Depression als die Stilldauer selbst. So ist das Risiko bei Müttern, die stillen möchten, aber nicht können, höher als bei Müttern, die gar nicht die Absicht haben, ihr Kind zu stillen. Bemerkenswerterweise wird in Geburtsvorbereitungskursen nur selten darüber informiert, was beim Stillen passiert und wie sich Probleme bewältigen lassen. Diese Informationen wären aber sehr wichtig. Dies führt dazu, dass sich viele Frauen unvorbereitet fühlen [110].
Neben der Versorgung des Säuglings stehen viele Mütter von Neugeborenen auch unter Druck, ihre Berufstätigkeit wiederaufnehmen zu müssen. Unabhängig davon, ob sie freiwillig oder gezwungenermaßen in den Beruf zurückkehren, stellt es für viele Frauen eine Herausforderung dar, ihre Verantwortung als Mutter mit ihrer beruflichen Verantwortung in Einklang zu bringen. Im Vereinigten Königreich nehmen rund 50% der Frauen ihre Berufstätigkeit wieder auf, sobald ihr Kind 6–9 Monate alt ist [111]. In den USA dagegen, wo es keinen gesetzlichen Mutterschaftsurlaub gibt, kehrt die Mehrzahl der Frauen bereits 3 Monate nach der Entbindung an den Arbeitsplatz zurück [112]. Ganz anders ist die Situation in den skandinavischen Ländern, in denen Mütter und Väter Anspruch auf eine relativ lange bezahlte Elternzeit haben. Hier wird bis ins 2. Lebensjahr des Kindes hinein ein Elterngeld in Höhe von 80% (des Einkommens) bezahlt.
Die Berufstätigkeit kann den Stillerfolg auf mehrere Arten beeinflussen. Erstens kann sie dazu führen, dass Frauen gar nicht erst mit dem Stillen beginnen, weil sie befürchten, dass sich ihr Kind nicht an Flaschennahrung gewöhnt, sobald sie wieder berufstätig sind. Dies wird auch häufig als Grund angegeben, weshalb Frauen abstillen, insbesondere, wenn der Säugling älter als 3 Monate ist. Im Vereinigten Königreich wird die Rückkehr an den Arbeitsplatz von einem Fünftel der Frauen, die 4 Monate nach der Entbindung abstillen, als Hauptgrund genannt. Die Wiederaufnahme der Berufstätigkeit nimmt an Bedeutung weiter zu und stellt bei Frauen, die 4–6 Monate nach der Entbindung abstillen, die häufigste Begründung dar [113]. Dieses Muster zeigt sich in der gesamten westlichen Welt mit ähnlichen Ergebnissen in den USA, in Europa, in Südamerika und in Südostasien [114].
Ein früherer beruflicher Wiedereinstieg geht, wenig überraschend, mit einer kürzeren Gesamtstilldauer einher. Bei Frauen, die innerhalb der ersten 3 Monate an den Arbeitsplatz zurückkehren, fällt die Gesamtstilldauer durchschnittlich einen Monat kürzer aus als bei Frauen, die ihre Berufstätigkeit später als 3 Monate nach der Entbindung wieder aufnehmen [115]. Bei Frauen in den USA, die bezahlten Mutterschaftsurlaub erhielten, war die Wahrscheinlichkeit höher, dass diese mit dem Stillen begannen und nach 6 Monaten noch stillten, als bei Frauen ohne bezahlten Mutterschaftsurlaub [116].
Die Stillmöglichkeiten nach Rückkehr an den Arbeitsplatz sind kontextabhängig. Manche Mütter können ihren Säugling in einer betrieblichen Kinderkrippe besuchen und direkt vor Ort stillen. Andere wiederum sind gezwungen, Milch abzupumpen und diese zu lagern, bis sie ihren Säugling damit füttern. Nicht allen Müttern fällt es leicht, Milch abzupumpen/auszustreichen. Viele haben den Eindruck, dass sie keine nennenswerten Mengen gewinnen können, obwohl ihre Milchbildung beim direkten Stillen ihres Kindes durchaus ausreichend ist.
ArbeitgeberInnen sind in gewissem Rahmen verpflichtet, stillende Mütter zu unterstützen, die Richtlinien sind jedoch uneindeutig. Im Vereinigten Königreich müssen ArbeitgeberInnen das Stillen am Arbeitsplatz unterstützen. Was diese Unterstützung jedoch genau beinhaltet, ist nicht geregelt. Müttern sollte ein geeigneter, geschützter Ruheraum mit Liegemöglichkeit bereitgestellt werden, und ihre Gefährdung sollte beurteilt werden. Einige Richtlinien empfehlen, Frauen einen privaten Raum zur Verfügung zu stellen, in dem sie Muttermilch abpumpen und diese in einem Kühlschrank aufbewahren können. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um Richtlinien und nicht um gesetzliche Vorschriften, die zudem von vielen ArbeitgeberInnen nicht befolgt werden.
Im Gegensatz dazu haben zahlreiche US-Bundesstaaten Rechtsvorschriften erlassen, die ArbeitgeberInnen dazu verpflichten, Frauen zum Abpumpen von Muttermilch Pausenzeiten einzuräumen und einen Stillraum zur Verfügung zu stellen. Studien haben jedoch gezeigt, dass viele Schwangere und junge Mütter die Unternehmenspolitik in Bezug auf das Stillen nicht kennen [114]. Eine qualitativ hochwertige Unterstützung von stillenden Frauen wirkt sich insgesamt positiv auf den Betrieb aus. In den USA kann dies zu einer Senkung der Beiträge führen, die Unternehmen für die Krankenversicherung ihrer Angestellten leisten. Höhere Stillraten sind mit verminderten Erkrankungsraten bei Mutter und Kind sowie mit geringeren Fehlzeiten verbunden. Eine intensive Unterstützung des Stillens erhöht die Arbeitsmoral von Müttern [117].
Nicht alle ArbeitgeberInnen erkennen jedoch die hohe Bedeutung, die eine Unterstützung des Stillens sowohl für die öffentliche Gesundheit als auch für das eigene Unternehmen besitzt. Im Rahmen einer Studie mit 157 Unternehmen wurden die Unterstützung des Stillens und die Einstellungen zum Stillen untersucht. Die meisten Unternehmen waren sich nicht darüber im Klaren, inwiefern sich das Stillen positiv auf das Unternehmen auswirken kann oder weshalb es wichtig sein könnte, stillende Mütter zu fördern [117]. Umgekehrt mögen die Unternehmen zwar angeben, das Stillen grundsätzlich zu befürworten, aber nur wenige können begründen, warum es wichtig ist [118]. Vielen Frauen ist es unangenehm, ihrem Arbeitgeber bzw. ihrer Arbeitgeberin mitzuteilen, dass sie nach Rückkehr an den Arbeitsplatz stillen werden, oder den Bedarf an besonderen Einrichtungen und Pausen anzusprechen. Die Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit nach dem Mutterschaftsurlaub kann für junge Mütter mit Ängsten verbunden sein, und vielen fällt es zusätzlich schwer, das Thema Stillen anzusprechen. Andere fürchten, dass sie bei Rückkehr an den Arbeitsplatz besonders verletzlich sein könnten, und möchten nicht um zusätzliche Unterstützung bitten [119].
Zudem könnte die Thematisierung des Stillens in manchen Unternehmen mit Scham behaftet sein. In einigen Fällen fühlt man sich vielleicht sogar „auf den Schlips getreten“ [120]. In einer vorwiegend männlich dominierten Geschäftswelt wird das Stillen eher als merkwürdiges Thema betrachtet, das mit dem typischen Verhalten von Angestellten am Arbeitsplatz nicht vereinbar ist [121]. Die Wahrnehmung der weiblichen Brust als Sexualobjekt – ob explizit oder implizit – kann solche Reaktionen noch verstärken, insbesondere wenn der Kontext der Muttermilch als Körperflüssigkeit mit ins Spiel kommt. Im Allgemeinen empfinden viele Menschen Abneigung bei dem Gedanken an Körperflüssigkeiten. Dies gilt auch für Muttermilch. Zusammen mit der sexualisierten Wahrnehmung der Brust kann dies dazu führen, dass manche Menschen die Muttermilch als eine Körperflüssigkeit wahrnehmen, die mit Sexualität in Verbindung steht [122].
Betrachtet man die Erfahrungen von Frauen, die nach ihrer Rückkehr an den Arbeitsplatz weiterhin stillen und sich dabei unterstützt fühlen, lassen sich mehrere gemeinsame Faktoren ableiten, die dies offensichtlich begünstigen. Mütter schätzen Flexibilität, besonders in Bezug auf Arbeits- oder Pausenzeiten, um bei Bedarf Muttermilch gewinnen zu können. Bezahlte Stillpausen werden, sofern gerecht vergütet, ebenso begrüßt wie separate Stillräume. Letztere sind allerdings selten vorhanden. Im weiteren Sinne schätzen es Frauen, wenn sie in ihrer Entscheidung unterstützt werden, sowohl von ihren ArbeitgeberInnen als auch von ihren PartnerInnen und anderen Familienmitgliedern [45].
Einrichtungen vor Ort, die das Stillen unterstützen, können die Gesamtstilldauer erhöhen. Werden am Arbeitsplatz Stillräume und Milchpumpen zur Verfügung gestellt, stillen weibliche Angestellte länger [123]. Manche Unternehmen bieten ihren schwangeren Angestellten sogar Seminare zum Thema Stillen sowie eine Stillberatung für die Zeit nach der Entbindung. Beides geht mit höheren Stillraten 6 Monate nach der Entbindung einher [124].
In zahlreichen psychologischen Verhaltensmodellen sind die Einstellungen und Verhaltensweisen der engsten Bezugspersonen eines Menschen signifikante Prädiktoren. Laut wissenschaftlichen Untersuchungen lässt sich anhand der Einstellungen des Partners bzw. der Partnerin und der Mutter einer Frau voraussagen, welche Haltung diese zum Stillen einnimmt und mit welcher Wahrscheinlichkeit sie mit dem Stillen beginnen bzw. anhaltend stillen wird. Kurzum wird das Stillen durch eine positive und unterstützende Haltung begünstigt, während negative Einstellungen erhebliche Ängste schüren und dem Stillen abträglich sein können.
Die Einstellungen und Verhaltensweisen des Partners bzw. der Partnerin einer Frau haben ganz entscheidenden Einfluss auf den Stillerfolg. Wenn der Kindsvater bzw. der Partner oder die Partnerin das Stillen befürwortet, wird eine Mutter viel eher überhaupt bzw. anhaltend stillen [26]. Darüber hinaus geben die meisten Väter bzw. PartnerInnen an, das Stillen ihres Babys selbst zu wünschen oder zumindest den Entschluss ihrer Partnerin zu respektieren [125]. Väter und PartnerInnen, die ihre Partnerin optimal unterstützen, stärken damit das Selbstvertrauen der Mutter, indem sie ihr praktisch und emotional beistehen [126]. Väter und PartnerInnen, die sich als FürsprecherIn der Mutter verstehen, sind für den Stillerfolg von großer Bedeutung [127]. Allerdings stehen Einstellung und Verhalten nicht immer in Einklang, und nicht alle Väter bzw. PartnerInnen möchten oder unterstützen, dass ihr Kind gestillt wird.
Väter bzw. PartnerInnen, die als Säuglinge selbst gestillt wurden, befürworten das Stillen mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit und empfinden es als normal. Darüber hinaus haben sie meist Erfahrungen mit dem Stillen im erweiterten Familienkreis gemacht. Jene Väter bzw. PartnerInnen, die selbst als Säugling gestillt wurden, sind dem Stillen in der Öffentlichkeit gegenüber eher positiv eingestellt und fühlen sich nicht peinlich berührt, wenn ihre Partnerin in Gegenwart anderer stillt [128]. Einige hingegen sind desinteressiert oder haben keine Meinung, insbesondere jüngere Väter bzw. PartnerInnen [129].
Auch wenn viele Väter bzw. PartnerInnen erklären, das Stillen unterstützen zu wollen, wissen viele nicht genau, wie sie dies umsetzen können, und fühlen sich dadurch hilflos und unvorbereitet. Andere haben Angst, das Falsche zu tun, oder übernehmen gleich die Regie in dem Wunsch, das Problem zu lösen, anstatt die Mutter emotional zu unterstützen [128]. Auch wenn sie möchten, dass ihr Säugling gestillt wird, sind viele in Wirklichkeit doch verunsichert. So geben sie an, sich ausgeschlossen zu fühlen, oder äußern Sorge um den Bindungsaufbau zu ihrem Kind. Einige berichten, eifersüchtig auf die Mutter und die wahrgenommene Mutter-Kind-Bindung zu sein [130]. Andere wiederum fühlen sich peinlich berührt oder verunsichert, wenn die Mutter in der Öffentlichkeit stillt, insbesondere im Freundeskreis und in der Familie [128].
Geburtsvorbereitungskurse zum Stillen richten sich oftmals nur an die Mütter, was bei den Vätern bzw. PartnerInnen das Gefühl des Ausgeschlossenseins noch verstärkt und dazu führt, dass sie nur wenig über das Stillen und seine Mechanismen wissen. Viele äußern den Wunsch, ebenfalls Zugang zu diesen zusätzlichen Informationen zu haben, damit sie ihre Partnerin bei etwaigen Problemen unterstützen können [131]. Wenn die umfassendere Bedeutung, die der Unterstützung des Stillens zukommt, nicht verstanden wird, so kann dies dazu führen, dass Väter bzw. PartnerInnen eher konkrete Einzelprobleme lösen wollen, anstatt der Mutter im erweiterten Sinne den Rücken zu stärken [132].
Entscheidungen über die Säuglingsernährung werden in hohem Maße durch familiäre Muster und Traditionen beeinflusst. Einer der wichtigsten Prädiktoren dafür, ob Mütter überhaupt bzw. anhaltend stillen, besteht darin, ob die Frau selbst gestillt wurde. Wenn eine Frau als Säugling nicht gestillt wurde, so sagt das Ausmaß des Kontakts mit ihrer Mutter die Gesamtstilldauer voraus; je enger der Kontakt, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie stillen wird [133]. Dies ist teilweise auf das Wissen und die Erfahrungen zurückzuführen, die die Großmutter selbst erworben hat. Großmütter, die selbst gestillt haben, sind besser in der Lage, ihre Töchter im Hinblick auf Stillmuster und bei Problemen mit dem Anlegen zu unterstützen [134]. Aber auch die Einstellung spielt eine große Rolle. Mütter legen Wert darauf, von ihrer eigenen Mutter akzeptiert und ermutigt zu werden [135].
Aufgrund der niedrigen Stillraten in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren wurden viele heutige Mütter bedauerlicherweise selbst nicht gestillt. Hat eine Großmutter nur Erfahrung mit Flaschenfütterung, liegt es nahe, dass sie ihrer Tochter bei etwaigen Problemen eine Flaschenfütterung vorschlägt. Großmütter, die zu wenig darüber wissen, wie das Stillen funktioniert und welchen Schaden ein Stillen nach „Zeitplan“ verursachen kann, schlagen ihrer Tochter möglicherweise vor, dem Baby die Flasche zu geben, wenn es häufig trinkt, nicht schläft – oder einfach als Mittel, der Tochter mehr Pausen vom Füttern zu verschaffen. Das zusätzliche Geben der Flasche kann sich jedoch nachteilig auf die Milchbildung der Mutter auswirken [135].
Das Stillen wird außerdem auch nicht in allen Familien befürwortet. Zahlreiche Studien legen nahe, dass Großmütter aktiv versuchen, ihren Töchtern das Stillen auszureden, wenn sie deren Entscheidung missbilligen [136]. Dies zeigt sich besonders deutlich bei jüngeren Müttern, die vermutlich noch stärker auf ihre eigene Mutter angewiesen sind, eventuell sowohl in finanzieller als auch in emotionaler Hinsicht. Mütter, die noch nicht unabhängig sind, sehen sich möglicherweise nicht in der Lage, negativen Einstellungen zum Stillen entgegenzutreten, und junge Mütter hören oftmals eher auf den Rat der eigenen Mutter, als auf die Empfehlungen von Fachpersonal im Gesundheitswesen [137]. Dies kann direkte Auswirkungen haben. Im Rahmen einer Studie wurden jüngere Mütter durch eine Beratungsmaßnahme dabei unterstützt, mit dem Stillen zu beginnen und dieses beizubehalten. Dies funktionierte gut, sofern die Mutter ein unabhängiges Leben führte. Lebte sie jedoch noch bei ihrer eigenen Mutter, so blieb die Beratungsmaßnahme erfolglos [138]. Daher sind Maßnahmen, die auf den erweiterten Familienkreis abzielen, von entscheidender Bedeutung.
Die bisherigen Ausführungen befassten sich vor allem mit dem Problem der niedrigen Stillraten in Ländern des westlichen Kulturkreises mit überwiegend weißer Bevölkerung. Die Stillraten, Stillpraktiken und Einstellungen zum Stillen sind jedoch eng mit der ethnischen Herkunft, dem Grad der Anpassung an die Kultur eines Landes und mit religiösen Bräuchen verknüpft. In vielen nicht westlichen Regionen mögen die Stillraten im Hinblick auf die Gesamtstilldauer zwar optimal sein, die Stillpraktiken sind es hingegen nicht unbedingt. Die Haltung zum Stillen und zur Muttermilch ist in diesen Gemeinwesen von erheblichen soziokulturellen Barrieren geprägt.
Abhängig davon, in welchem Land sie leben, lässt sich im Hinblick auf die unterschiedlichen Stillraten verschiedener ethnischer Gruppen ein interessantes Muster beobachten. Im Vereinigten Königreich verzeichnen weiße Frauen britischer Herkunft die niedrigsten Stillraten. Frauen mit einem europäischen, schwarzen, asiatischen und chinesischen familiären Hintergrund stillen insgesamt in größerer Zahl und deutlich länger. So begannen im Vereinigten Königreich 97% der Frauen mit chinesischem Hintergrund mit dem Stillen, 96% der Frauen aus schwarzen Familien und 95% der Frauen mit asiatischem Hintergrund. Bei weißen Müttern betrug der Anteil 79% [11]. Gleichermaßen begannen in Irland 49% der Mütter mit einem weißen, irischen Hintergrund unmittelbar nach der Entbindung mit dem Stillen, verglichen mit 86% der Frauen anderweitiger weißer Herkunft. Frauen mit afrikanischem oder schwarzem Hintergrund begannen zu 92,5% mit dem Stillen, bei Frauen chinesischer bzw. asiatischer Herkunft lag die Rate bei 91,5%. In Irland geborene Mütter stillten insgesamt deutlich seltener bzw. über kürzere Zeit als Frauen, die außerhalb Irlands geboren wurden. Lediglich 50% der in Irland geborenen Mütter begannen mit dem Stillen, verglichen mit 89% der außerhalb Irlands geborenen Mütter. Auch hier galt: Je länger die Mutter im Land lebte, desto geringer war die Stillwahrscheinlichkeit [139].
Woher kommen diese Unterschiede? Ein Faktor ist häufiges Stillen innerhalb der Familiengeschichte, insbesondere, wenn die Frau in einem Land geboren wurde, in dem das Stillen die Regel darstellt. Eine weitere Rolle spielen religiöse Bräuche, auf die wir im nächsten Abschnitt eingehen. In einer früheren Version des Infant Feeding Surveys äußerten Mütter aus Indien, Pakistan oder Bangladesch, dass sie vermutlich länger gestillt hätten, wenn ihr Kind in ihrem Herkunftsland zur Welt gekommen wäre. Als Gründe hierfür wurden u. a. kulturelle Normen, ein umfassenderes Wissen und mehr Vorerfahrungen der Väter und Mütter mit dem Stillen genannt [140]. Zudem ist bei Müttern, die in ein anderes Land auswandern, aber in ihrer Herkunftskultur verwurzelt bleiben, eine höhere Stillrate zu beobachten. In Australien stillten mehr Frauen mit arabischer und chinesischer Muttersprache überhaupt und über einen längeren Zeitraum als englischsprachige Frauen [141].
Eine Frau muss selbst keiner ethnischen Gruppe mit einer hohen Stillrate angehören, um durch Gepflogenheiten beeinflusst zu werden. Im Vereinigten Königreich stillen weiße Frauen, deren PartnerIn einer anderen ethnischen Gruppe angehört als sie selbst, häufiger als Frauen, deren PartnerIn ebenfalls weiß ist. Ferner war die Stillrate auch bei weißen alleinstehenden Müttern höher, wenn diese in Gemeinschaften lebten, die stark von anderen Ethnien geprägt waren [142]. Dies legt nahe, dass sich die Normen einer Gemeinschaft – sei es eine ethnische oder eine räumliche Gemeinschaft – auf die Einstellungen zum Stillen und dessen Unterstützung auswirken. Umgekehrt finden sich in den USA unter Frauen schwarzamerikanischer Herkunft deutlich weniger Mütter, die überhaupt stillen und anhaltend stillen, als unter Amerikanerinnen weißer Hautfarbe oder hispanischer Herkunft [143]. Dies führt, ungeachtet des ähnlich signifikanten Armutsniveaus, zu erheblichen gesundheitlichen Ungleichheiten zwischen schwarzen und hispanischen Gruppen. Der Gesundheitszustand der hispanischen Bevölkerung ist deutlich besser, als es angesichts ihres Einkommensniveaus zu erwarten wäre. Dieses Phänomen wird als das „hispanische Paradoxon” bezeichnet und lässt sich zumindest teilweise auf eine lange Gesamtstilldauer im Säuglingsalter zurückführen [144]. In den USA geborene Mütter stillen deutlich seltener überhaupt und über längere Zeit als im Ausland geborene Mütter. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass in den USA geborene Mütter überhaupt stillen, um 85% geringer als bei Müttern, die nicht in den USA geboren wurden [145].
Warum sind die Stillraten bei schwarzamerikanischen Frauen niedriger? In den USA werden Leistungsangebote für Frauen, Säuglinge und Kinder von afroamerikanischen Frauen in einem anderen Umfang wahrgenommen als von weißen Frauen, wobei Erstere ein geringeres Maß an Stillberatung erhalten [146]. Laut einer anderen Studie hatten schwarze Mütter den Eindruck, dass sie gegenüber Fachpersonal im Gesundheitswesen das Thema Stillen selbst aktiv ansprechen mussten. Andernfalls ging man einfach davon aus, dass Stillen für diese Mütter kein Thema war und es kam nicht zur Sprache. Andere hatten das Gefühl, das Image der starken schwarzen Frau impliziere, dass afroamerikanische Frauen ihre Unabhängigkeit schätzten und bei Problemen nicht um Hilfe bitten wollten [15]. Die „ethnische Voreingenommenheit“ der Gesundheitsversorgung, die schwarzen Amerikanerinnen keinen gleichwertigen Zugang zu Unterstützungsangeboten und keine gleichwertige Informationsqualität bietet wie Frauen anderer Ethnien, zieht sich in den USA durch das gesamte Gesundheitssystem [147].
Ein häufiges Thema in einer umfassenden Studie mit afroamerikanischen Müttern war die fehlende Sichtbarkeit von stillenden schwarzen Frauen. Weder in der Literatur noch im Internet fanden sich positive fotografische oder sonstige Darstellungen stillender schwarzer Frauen. Darüber hinaus gehen schwarze Frauen überdurchschnittlich oft gering bezahlten Tätigkeiten mit langen Arbeitszeiten nach und kehren innerhalb von 6 Wochen nach der Entbindung an den Arbeitsplatz zurück. Sie hatten Bedenken, auf gesetzlich garantierte Rechte zu pochen, da sie befürchteten, ihre Arbeit zu verlieren. Außerdem spielt das historische Thema der Sklaverei eine wichtige Rolle, insbesondere bei älteren Generationen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass schwarze Frauen die Säuglinge weißer Frauen als Ammen stillen mussten, und die Assoziation von Stillen mit Sklaverei steht weiter im Raum. Vor allem die Großmütter, von denen manche vielleicht selbst noch Ammen waren, stehen dem Stillen massiv ablehnend gegenüber und betrachten die Fütterung von Säuglingsmilchnahrung als eine Form der Freiheit [15]. Schwarze Frauen neigen zudem stärker zu verschiedenen Gesundheitsproblemen, die das Stillen erschweren können. Hierzu zählen ein höheres Risiko für einen schlechteren perinatalen Gesundheitszustand, chronische Erkrankungen, Depression und Stress, die allesamt das Stillen schwieriger gestalten können [148]. Armut spielt ebenfalls eine zentrale Rolle [149].
Kulturelle Anpassung findet dann statt, wenn ImmigrantInnen beginnen, die Gepflogenheiten, Einstellungen und Überzeugungen ihres Einwanderungslandes zu übernehmen. Dies kann positive oder negative Auswirkungen haben. Bei vielen Frauen, die in den westlichen Kulturkreis einwandern, wirkt sich die kulturelle Anpassung in der Regel jedoch nachteilig auf die Stillraten aus. Beispielsweise ist die Stillrate bei außerhalb der USA geborenen Frauen zwar höher als bei Müttern, die in den USA geboren wurden, doch nimmt die Stillwahrscheinlichkeit bei eingewanderten Müttern mit jedem Jahr, das sie in den USA verbringen, um 4% ab. Ein vergleichbares Muster zeigte sich bemerkenswerterweise mit jedem Jahr, das ein eingewanderter Vater in den USA verbrachte [145].
Warum wirkt sich das Leben in einem anderen Land auf die Stillrate aus? Zunächst einmal kann kulturelle Anpassung bedeuten, dass eine Mutter die negative Stillpraxis des Einwanderungslandes übernimmt oder mit den gleichen Hindernissen konfrontiert ist wie die einheimischen Frauen. Zweitens kann die Mutter auf negative Überzeugungen treffen, die ihr neu sind, und von denen sie befürchtet, dass sie zutreffend sein könnten. In einer Studie mit somalischen Frauen in Norwegen berichtete eine Mutter, dass die Vorstellung, nicht genug Muttermilch zu haben, Frauen in Somalia vollkommen fremd sei, jedoch viele ihrer nach Norwegen eingewanderten somalischen Geschlechtsgenossinnen beunruhigt habe. Und schließlich können auch die Belastungen, die das Leben in einer neuen Umgebung mit sich bringt, zu Stillproblemen führen, vor allem, wenn eine Mutter ohne die in ihrem Heimatland üblichen Unterstützungsnetzwerke auskommen muss [150].
Kulturelle Überzeugungen und Normen haben einen sehr starken Einfluss auf das menschliche Verhalten. Das gilt insbesondere für Fragen der Ernährung [151]. In zahlreichen historischen und religiösen Schriften wird auf das Stillen Bezug genommen. Das Vereinigte Königreich und die USA können heute z. B. durchaus als Gesellschaften betrachtet werden, in denen das Füttern von Säuglingsmilchnahrung die kulturelle Norm darstellt. Historisch betrachtet, hat sich die Einstellung zum Stillen und zur Muttermilch in diesen Ländern jedoch deutlich gewandelt. In England und Amerika wurde die Muttermilch im 18. Jahrhundert als Medizin angesehen, deren regenerative Kräfte von kranken und älteren Erwachsenen geschätzt wurden. Man war davon überzeugt, dass Muttermilch Infektionen heilen könne, und es wurde häufig auf ihre heilende Wirkung bei Augeninfektionen verwiesen – eine Wirkung, die man sich noch heute zunutze macht. Zudem glaubte man, dass die Muttermilch einer anderen Frau den Geburtsvorgang beschleunigen könne. In frühen Schriften wurde das Stillen als höchster Ausdruck der Liebe verklärt [152].
Auch in den Schriften sämtlicher Weltreligionen wird das Stillen als etwas Kostbares und Schützenswertes dargestellt. In Schriften der christlichen Theologie finden sich zahlreiche Verweise auf das Stillen. Und auch in der Bibel wird das Stillen im Zusammenhang mit Liebe, Ruhe und Sicherheit immer wieder erwähnt. Das Stillen von Säuglingen ist ein häufiges Motiv in der religiösen Metaphorik [152]. Noch wesentlich tiefgründiger gehen allerdings hinduistische und islamische Schriften auf das Stillen ein.
Die wichtigsten heiligen Schriften des Hinduismus sind die Veden (1800 v. Chr.), die aus 4 Texten bestehen: Rigveda, Samaveda, Yajurveda und Atharvaveda. Daneben finden sich uralte ayurvedische Quellen, u. a. Schriften von Kinderärzten, Chirurgen und Acharya Charak, der als Vater der Medizin gilt [153]. In diesen Texten finden sich keinerlei Verweise auf Flaschenfütterung, wohingegen Ammen häufig erwähnt werden. In all diesen Schriften tauchen Muttermilch und die Brust im Zusammenhang mit Aspekten wie Langlebigkeit und Süße auf, und die Brust wird als ein mit Nektar gefüllter Krug beschrieben. Muttermilch spendet Leben: Parvati, die Gattin des Gottes Shiva, erschafft ihren Sohn aus ihrem Gewand, und erst als sie ihn an die Brust legt, wird er lebendig [154]. Im Hinduismus wird auch darauf verwiesen, wie wichtig die Versorgung der Mutter nach der Niederkunft ist. In der hinduistischen Kultur werden einer Mutter nach der Entbindung 40 Tage lang Schutz und Ruhe gewährt. In dieser Zeit muss sie keine Hausarbeiten verrichten, damit sie sich von der Geburt erholen und sich um das Neugeborene kümmern kann. Sie erhält regelmäßige Mahlzeiten, aber auch spezielle Nahrungsmittel, welche die Quantität und Qualität ihrer Milch erhöhen sollen, u. a. Dörrfisch, Dal und Auberginen [154].
Im Islam heißt es im Koran, dass Mütter 2 Jahre lang stillen sollen. Die Muttermilch gilt als Gottes Geschenk an das Baby, womit die Mutter gegenüber Gott zum Stillen verpflichtet ist. Man glaubt, dass beim Stillen der Reichtum der Mutter an den Säugling weitergegeben wird. Die meisten muslimischen Frauen glauben, dass sie bestraft werden, wenn sie nicht stillen und diese Verpflichtung nicht erfüllen [155]. Im Monat Ramadan müssen Muslime zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang fasten. Es gibt jedoch Ausnahmen, u. a. für stillende Frauen. Allerdings fasten viele stillende Frauen trotzdem, obwohl sie es nicht müssten; laut einer Studie rund 50%. Ein Drittel derjenigen, nach deren Auffassung stillende Mütter nicht fasten müssen, fastete bemerkenswerterweise dennoch [156].
In religiösen Schriften wird das Stillen generell also sehr positiv als etwas Schützens- und Wünschenswertes dargestellt. Dies könnte zum Teil erklären, weshalb die Stillraten in Gemeinschaften höher ausfallen, in denen der islamische und hinduistische Glaube und die entsprechenden Bräuche tief verankert sind. Doch auch wenn in vielen Regionen Afrikas, Asiens und Südostasiens nahezu alle Mütter über längere Zeit stillen und Säuglingsmilchnahrung nur selten zum Einsatz kommt, sind die Stillpraktiken nicht optimal. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, Säuglinge ausschließlich zu stillen und innerhalb der ersten Stunde nach der Entbindung mit dem Stillen zu beginnen. Wenn nach der ersten Lebensstunde mit dem Stillen begonnen wird, verdoppelt sich das Sterblichkeitsrisiko [157]. Jedoch werden in Südasien lediglich 41% der Babys innerhalb der ersten Stunde nach der Geburt gestillt [14]. In Äthiopien sind Säuglinge, die prälakteal andere Nahrung erhalten, fast doppelt so häufig kleinwüchsig (Körperlänge im Verhältnis zum Entwicklungsalter) wie Babys, die keine andere Nahrung erhalten [158]. Suboptimale Stillpraktiken sind häufig in den religiösen Bräuchen, kulturellen Gepflogenheiten oder Normen der Gemeinschaft verankert, in der eine Frau lebt.
Erstens beginnt die Frau häufig erst nach einem bestimmten Ereignis oder einer gewissen Anzahl von Tagen mit dem Stillen. In einigen medizinischen Texten des Hinduismus wird empfohlen, erst am 3. Tag mit dem Stillen zu beginnen, andere wiederum raten zum Stillen ab dem 1. Tag [154]. In ländlichen Gegenden Ghanas müssen sich Erstgebärende nach der Entbindung zunächst einem kulturellen Reinigungsritual unterziehen, bevor sie stillen. Hierbei wird die Mutter, wenn sie einen Jungen zur Welt gebracht hat, 3 Tage lang mit warmem Kräuterwasser übergossen, wenn sie ein Mädchen geboren hat, 4 Tage lang. Das Baby wird in dieser Zeit entweder von einer Amme gestillt oder erhält Kräutertee [159]. Im indischen Haryana ist es teilweise Brauch, mit dem Stillen erst dann zu beginnen, wenn Sterne am Himmel sichtbar sind. Wird ein Kind morgens geboren, sollte die Mutter mit dem Stillen bis zum Abend warten; erfolgt die Entbindung nachts, kann sie bereits früher stillen [160]. Muslimische Gesellschaften folgen 5-mal täglich dem Gebetsruf („Adhan”). Gemäß den Glaubensregeln sollen Frauen nach 3 Gebetsrufen mit dem Stillen beginnen. Das bedeutet, dass der Säugling erst 8–16 Stunden nach der Entbindung gestillt wird. Dies verleiht den Kindern angeblich Geduld und Widerstandsfähigkeit gegen Hunger [161].
Zweitens wird in vielen Kulturen, insbesondere in Afrika und Asien, das Kolostrum trotz seiner immunfördernden Eigenschaften verworfen, weil es aufgrund seiner Farbe und Konsistenz für schmutzig bzw. zu dickflüssig gehalten wird [162]. Andere sind der Überzeugung, das Kolostrum habe keinen Nährwert, mache Babys krank oder bringe sogar Unglück [163]. In manchen Kulturen glauben die Menschen, das Kolostrum sei über die gesamte Schwangerschaft in der Brust gespeichert worden und daher bedenklich oder eine Art „verschmutztes Wasser“. In der Türkei empfehlen ältere Generationen eine Mischung aus Butter und Zuckerwasser als erste Säuglingsnahrung, die angeblich Erbrechen vorbeugen soll [161]. Manche glauben, das Kolostrum könne für das Neugeborene tödlich sein, da es 9 Monate lang in der Brust gespeichert worden und verschmutzt sei [164]. In Indonesien wird das Kolostrum ebenfalls von rund einem Fünftel der Mütter verworfen, da es als unverdaulich, „käseartig“ bzw. schmutzig gilt. Zudem glaubt man, dass Kinder, die es trinken, Bauchschmerzen bekämen oder „blödsinnig“ würden [165].
In einer Studie im ländlichen Norden Ghanas fand sich der Brauch, die Brust auszustreichen und schwarze Ameisen in das Kolostrum zu geben, um dieses auf Bitterkeit zu testen. Wenn die Ameisen herauskrabbeln, so gilt die Muttermilch als brauchbar; sterben die Ameisen, geht man davon aus, dass die Muttermilch bitter, schmutzig und giftig ist und beim Säugling zu Krankheiten oder gar zum Tod führen könnte. Bevor die Mutter ihr Baby stillen kann, muss sie sich einem Ritual zur Reinigung der Muttermilch unterziehen. Hierzu werden die Brüste mit Kräutern oder Sheabutter gewaschen. Das Ritual dauert 3 Tage, wenn die Mutter einen Jungen geboren hat, und 4 Tage, wenn sie ein Mädchen zur Welt gebracht hat [159]. Nach einer weniger strengen Methode in der hinduistischen Literatur wird empfohlen, die Mutter solle zu Beginn jedes Stillvorgangs ein paar Tropfen Milch ausstreichen, um die Milchgänge zu reinigen [154].
Drittens ist in zahlreichen Regionen Afrikas, Indiens und Südostasiens eine prälakteale Fütterung gängig. Die Schätzungen reichen von ca. 60% in Nigeria [166] bis 27% in Nepal [167]. Die Vorstellung, dass Babys hungrig geboren werden und sofort gefüttert werden müssen, kann zur prälaktealen Gabe von Nahrungsmitteln führen. In vielen afrikanischen und indischen Gemeinschaften handelt es sich dabei häufig um Haferbrei, Salz oder Zucker. Ein prälakteales Füttern kann auch aufgrund von Ritualen erfolgen, bei denen das Stillen für eine gewisse Zeit aufgeschoben oder das Kolostrum verworfen wird. Sie sind eng mit religiösen Bräuchen verknüpft. Bei muslimischen Gläubigen ist die Gabe von prälaktealen Nahrungsmitteln verbreiteter als im Christentum [166].
Prälakteale Nahrungsmittel werden aber häufig auch aus anderen Gründen gegeben. Verschiedenen prälaktealen Nahrungsmitteln wird ein unterschiedlicher Nutzen zugeschrieben. So sollen etwa Honig und Butterschmalz (Ghee) die Ausscheidung des Mekoniums (Kindspech) beim Säugling unterstützen [154]. Andere glauben, dass diese Nahrungsmittel den Magen des Säuglings reinigen [168]. In Pakistan wird dem Baby prälakteale Nahrung häufig von einer älteren Person mit dem Finger gegeben, was den Säugling stärken und dessen Magen reinigen soll [169].
Prälakteale Nahrungsmittel sind häufig Teil religiöser Zeremonien. Im Hinduismus wird das Kind während einer traditionellen Zeremonie namens „Jātakarman“ in der Familie willkommen geheißen. Hierbei schreibt ein Familienmitglied, das als tugendhaft und rechtschaffen gilt, das heilige Wortsymbol „Om“ mit in Ghee getauchtem Palmzucker auf die Zunge des Säuglings. Damit sollen dem Glauben nach die Tugenden der Person auf den Säugling übergehen. Außerdem gibt der Vater dem Baby mit dem Ringfinger und mittels eines Goldstäbchens Honig oder Ghee. Handelt es sich um einen männlichen Säugling, benutzt der Vater hierzu einen goldenen Löffel. Mit diesem Ritual soll das Baby Weisheit, Langlebigkeit und den Schutz der Götter erlangen [154].
Auch die kulturellen Vorstellungen in Bezug darauf, wann das Stillen opportun ist, können sich erheblich von denjenigen im westlichen Kulturkreis unterscheiden. In Kenia etwa haben manche Mütter Angst, in der Öffentlichkeit zu stillen, allerdings nicht aus Gründen der gesellschaftlichen Akzeptanz. Manche befürchten, beim Stillen in der Öffentlichkeit vom „bösen Blick“ eines anderen Menschen getroffen zu werden. Hiermit ist ein böswilliges Anstarren gemeint, bei dem die Betroffene mit einem Hexenfluch belegt wird, der bei ihr zum Versiegen der Milch oder schmerzhaften Brüsten führen soll. Auch wird angenommen, dass bestimmte Handlungen und Gefühle Auswirkungen auf die Muttermilch haben. Im Rahmen eines Forschungsprojekts in 2 kenianischen Slums sprachen Frauen darüber, dass die Milch einer Frau „unrein” werden könne, wenn diese eine außereheliche Affäre habe. Eine derartige Affäre brächte den Fluch „Chira” über die Frau, der zum Tod des Babys führen könne. Mancherorts werden die Mütter (und ihre Milch) einem Reinigungsritual unterzogen. Die Stigmatisierung in der Gemeinschaft besteht jedoch weiter: Hat eine Frau mit mehreren Männern Geschlechtsverkehr, wird ihr Baby sterben. Nach einem Streit mit ihrem Ehemann, einem/einer Verwandten oder einem anderen Mitglied ihrer Gemeinschaft sollte die Mutter erst stillen, nachdem sie sich einem Reinigungsritual unterzogen hat. Dieses beinhaltet häufig die Einnahme einer speziellen kräuterhaltigen Arznei, die als „Manyasi” bezeichnet wird [162].
Und schließlich können Überzeugungen in Bezug auf das Teilen von Muttermilch auch Auswirkungen auf Muttermilchspenden haben. Im Islam gelten Kinder, die von derselben Frau gestillt werden, als Milchgeschwister. Nach dem Gesetz über die Blutsverwandtschaft dürfen diese beiden Personen nicht heiraten. Die Mütter müssen einander daher kennen, um solche Eheschließungen zu verhindern. Es wird intensiv darüber diskutiert, wie oft Babys gestillt worden sein müssen, um als Milchgeschwister zu gelten. Manche vertreten die Ansicht, 1 Stillvorgang reiche bereits aus, während andere meinen, es müssten mindestens 5 oder bis zu 10 Stillvorgänge sein. Andere schlagen als Kriterium vor, dass der Säugling über einen längeren Zeitraum gestillt worden sein muss, bspw. bei 10 aufeinanderfolgenden Fütterungen, oder bei sämtlichen Mahlzeiten innerhalb von 24 Stunden [170].
Eine weitere Debatte dreht sich darum, wie die Muttermilch gegeben wird. Manche vertreten die Auffassung, dass das Füttern von abgepumpter Muttermilch per Flasche oder Becher kein Milchgeschwisterverhältnis etabliert. Dies hat erhebliche Auswirkungen, wenn Spenderinnenmilch an Frühgeborene und kranke Babys verabreicht wird. Einer anderen Meinung zufolge muss ausreichend viel Milch von ein und derselben Mutter stammen, damit „Fleisch und Knochen aufgebaut werden können“. Spenderinnenmilch von einer Muttermilchbank ist somit zulässig, da bei den Milchspenden die Milch verschiedener Frauen gemischt wird, sodass keine Frau allein mit ihrer Muttermilch den Hauptbeitrag zum Wachstum des Säuglings leistet. Wieder andere halten Spenderinnenmilch von Muttermilchbanken allerdings für nicht vertretbar, da man nicht zurückverfolgen könne, von wem die Milch stamme [171].
Das Konzept der Milchgeschwisterschaft ist keine rein religiöse Vorstellung. In zahlreichen Kulturen herrscht die Überzeugung, dass Menschen, die von derselben Mutter gestillt wurden, auf besondere Weise miteinander verbunden sind [170]. In manchen dieser Kulturen ist man ebenfalls überzeugt, dass 2 Menschen, die von derselben Mutter genährt wurden, keine Ehe schließen sollten. Dort ist es daher Brauch, dass Ammen nur Kinder desselben Geschlechts stillen, um das Problem zu vermeiden [172]. Andere Kulturen urteilen weniger streng und sehen stattdessen nur eine besondere Bindung. In der Türkei bspw. gelten Menschen, die von ein und derselben Frau gestillt wurden, als Freunde fürs Leben. Männer, die im heutigen Polen der älteren Generation angehören und als Säuglinge von derselben Frau gestillt wurden, betrachten sich als Milchbrüder [156].
Die gesellschaftlichen und kulturellen Einstellungen und Überzeugungen, sowohl in Bezug auf das Stillen als auch auf die Mutterschaft insgesamt, haben einen erheblichen Einfluss darauf, ob, wann und wie lange Mütter stillen. Es handelt sich beim Stillen also nicht um einen rein biologischen Vorgang, der lediglich der praktischen Unterstützung bedarf. Selbstverständlich sind eine qualitativ hochwertige stationäre Versorgung und Unterstützung des Stillens durch die Gemeinschaft von großer Bedeutung, aber gleichzeitig müssen wir das Umfeld verändern, in dem eine Frau stillt. Im Handlungsaufruf der UNICEF-Initiative Baby Friendly UK heißt es:
„Es ist an der Zeit, damit aufzuhören, die einzelne Frau für ein wesentliches Problem der öffentlichen Gesundheit verantwortlich zu machen. Stattdessen müssen wir alle gemeinsam daran arbeiten, für Frauen, die stillen möchten, ein unterstützendes, ermächtigendes Umfeld zu schaffen.“
Um Aussicht auf Erfolg zu haben, sollten entsprechende spezifische Maßnahmen daher auf die Aufklärung nicht nur der Mutter selbst, sondern ihres gesamten Umfelds abzielen. Es sind weitere gesetzliche Vorschriften vonnöten, um Frauen bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz das Stillen zu erleichtern. Im Idealfall sollten beide Elternteile weltweit so lange Anspruch auf bezahlten Erziehungsurlaub haben, wie dies bereits heute in den skandinavischen Ländern der Fall ist. Mütter sollten nicht aus finanziellen Gründen gezwungen sein, ihre Berufstätigkeit wieder aufzunehmen, wenn sie vorwiegend mit dem Stillen des Säuglings beschäftigt sind und an Schlafentzug leiden. Besonderes Augenmerk sollte auf die Ungleichheiten zwischen ethnischen Gruppen in den USA gerichtet werden. Frauen mit einem extrem niedrigen Einkommen, insbesondere schwarze Frauen, sollten geschützt und in die Lage versetzt werden, längere Zeit mit ihrem Baby zu verbringen, anstatt bereits wenige Wochen nach der Entbindung an den Arbeitsplatz zurückzukehren.
Öffentliche Gesundheitskampagnen sollten darauf abzielen, stillende Frauen gesetzlich zu schützen und den öffentlichen Raum stillfreundlicher zu gestalten. Das Stillen muss außerdem sichtbarer werden – in den Medien, in der Literatur und im öffentlichen Raum. Wenn wir wollen, dass die weibliche Brust nicht nur mit ihrer sexuellen Funktion, sondern auch mit dem Stillen assoziiert wird, muss es auch entsprechende Darstellungen geben. Darüber hinaus gewinnt das Stillen nur dann an Akzeptanz und Normalität, wenn es sichtbar gemacht wird [110]. Dass Sichtbarmachen das Bewusstsein verändert, ist wissenschaftlich belegt. In einer Studie wurden junge Mütter aufgefordert, sich ein Fotoalbum mit Bildern von Müttern anzusehen, die ihre Babys stillen und mit ihnen interagieren. Nach dem Betrachten der Bilder gaben mehr Mütter an, weiter stillen zu wollen [173].
Väter bzw. PartnerInnen und Großmütter sollten bei der Aufklärung über das Stillen miteinbezogen werden. In Australien führte der Besuch von Stillkursen vor und nach der Geburt zu einer erhöhten Stillrate 6 Wochen nach der Entbindung [174], und die Aufklärung von Vätern bzw. PartnerInnen hinsichtlich der Wahrnehmung und Bewältigung von Stillproblemen ging mit einer erhöhten Stillrate 6 Monate nach der Geburt einher [175]. In einer anderen Studie zeigte sich ein Anstieg der Rate für ausschließliches Stillen, wenn Väter bzw. PartnerInnen gemeinsam mit ihrer Partnerin an Geburtsvorbereitungskursen teilnahmen [133]. Wenn Großmütter über das Thema Stillen informiert werden, so vergrößert sich deren Wissen über das Stillen, die Einstellung ändert sich jedoch nicht [176]. Ganz allgemein ist hier Vorsicht geboten. Einige Studien haben gezeigt, dass die Stillraten auch sinken können, wenn der Vater bzw. der/die PartnerIn in die Versorgung des Säuglings eingebunden wird [177]. Letztlich ist die persönliche Präferenz der Großmutter ausschlaggebend dafür, ob diese das Stillen unterstützt oder nicht [176]. Darüber hinaus wurde vorgebracht, dass Männer und Frauen im Hinblick auf Lernstile und Herangehensweisen oft unterschiedliche Präferenzen haben und dementsprechend Botschaften unterschiedlich interpretieren können. Zudem ist es manchen Frauen eventuell unangenehm, in Gegenwart von Männern über das Stillen zu sprechen [178], was den kulturellen und gesellschaftlichen Konnotationen der Brust geschuldet ist.
Religiöse Glaubensvorstellungen und kulturelle Überzeugungen sind ein heikles Thema. Wenn es um nicht optimale Fütterungspraktiken geht, spielt die Aufklärung jedoch eine zentrale Rolle. Insbesondere die prälakteale Gabe von Nahrungsmitteln und das Verwerfen des Kolostrums sind eng mit den Einstellungen und der Präsenz von Großmüttern und traditionellen GeburtshelferInnen verknüpft [179]. Auch die Väter üben einen wesentlichen Einfluss aus. In ländlichen Gegenden Ghanas kann anhand der Einstellung des Vaters mit hoher Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden, ob eine Frau stillen wird oder nicht: Befürwortet der Vater das Stillen, werden über 98% der Säuglinge gestillt, im gegenteiligen Fall nur 27% [180]. Eine Aufklärung des erweiterten Umfelds trägt zur Unterstützung günstigerer Praktiken bei. Bei Hausgeburten ist eine Übernahme von suboptimalen Fütterungspraktiken besonders wahrscheinlich. Dem könnte dadurch abgeholfen werden, dass Frauen der Zugang zum Gesundheitssystem erleichtert wird [181]. Wenn bspw. die Risiken einer prälaktealen Gabe von Nahrungsmitteln wenig bekannt sind, ist die Wahrscheinlichkeit signifikant höher, dass Säuglinge diese erhalten. Laut einer Studie in Äthiopien war die Wahrscheinlichkeit des prälaktealen Fütterns bei Müttern, denen die damit verbundenen Risiken nicht bekannt waren, um den Faktor 3,7 erhöht [168].
Insgesamt kommen prälakteales Füttern, ein Hinauszögern des ersten Stillens und das Verwerfen des Kolostrums bei Müttern mit einem höheren Bildungsniveau weniger häufig vor [166]. Ein höherer Bildungsstandard in der gesamten Gemeinschaft sowie ein besserer Zugang zu Gesundheitsleistungen könnten helfen, solche Praktiken einzudämmen. Und letztlich wird die Gabe von prälaktealer Nahrung auch durch Werbung für industriell hergestellte Säuglingsmilchnahrung beeinflusst, was in Entwicklungsländern schlimme Folgen haben kann. Es könnten mehr Familien vor dieser Praxis geschützt werden, wenn die Einhaltung des WHO-Kodexes sichergestellt wäre [182].
Brasilien ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie die Stillraten durch Umsetzung eines solchen gesamtgesellschaftlichen Konzepts signifikant gesteigert werden können. Die mediane Stilldauer lag im Jahr 1986 noch bei 2,5 Monaten, ist jedoch bis zum Jahr 2006 auf 14 Monate gestiegen. Auch die Rate für ausschließliches Stillen über die ersten 4 Monate hat sich von 4 auf 48% erhöht. Hierzu investierte die Regierung hohe Summen in die Förderung des Stillens auf gesellschaftlicher Ebene, u. a. durch die Kooperation mit verschiedenen Organisationen, Aufklärungskampagnen in den Medien, die Schulung von Fachpersonal sowie die Einrichtung von Unterstützungsgruppen von Müttern für Mütter. Auf politischer Ebene erfolgte eine strikte Umsetzung des Internationalen Kodexes für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten und eine Ausweitung des Mutterschaftsurlaubs auf 6 Monate. Zudem wurden über 300 Entbindungskliniken von der Initiative Babyfreundliches Krankenhaus zertifiziert. Investitionen in über 200 Muttermilchbanken machten Brasilien zum Land mit der weltweit höchsten Zahl von Milchbanken. Die Kombination all dieser Maßnahmen trug ebenso zu ihrem Erfolg bei wie der Umstand, dass diese nicht nur auf die Aufklärung der Mutter abzielten, sondern sich an deren erweitertes Umfeld und Unterstützungsnetzwerk richteten, um der Mutter das Stillen ihres Babys zu ermöglichen [183].
Zusammenfassend gesagt, sind dringend Maßnahmen zur Steigerung der Stillraten im westlichen Kulturkreis und zur Verbesserung der Stillpraktiken in Entwicklungsregionen erforderlich. Diese Maßnahmen sollten jedoch über die praktische Unterstützung bei physiologischen Problemen hinausgehen und die Gesellschaften, Kulturen und Gemeinschaften, in denen Frauen stillen, insgesamt in den Blick nehmen. Die staatlichen Regierungen müssen in das Stillen investieren, um Mütter und deren Säuglinge zu unterstützen und für die Gesundheit künftiger Generationen zu sorgen. Der Ertrag aus diesen Investitionen wird von unschätzbarem Wert sein.
Das Stillen sollte nicht nur als rein physiologischer Vorgang betrachtet werden. Darüber hinaus gibt es zahlreiche soziale und kulturelle Faktoren, die sich sowohl auf die mütterliche Einstellung zum Stillen als auch auf den Stillerfolg auswirken. Das Stillen funktioniert nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage und Stillen nach Bedarf führt zu einer optimalen Milchbildung, Gewichtszunahme des Säuglings und insgesamt zu einer positiven Stillerfahrung. Allerdings hat eine Vielzahl von soziokulturellen Faktoren negative Auswirkungen auf das Wissen über, den Wunsch nach und die Fähigkeit zum Stillen nach Bedarf. Dadurch kommt es oft zum Abbruch dieser Praktik.
Im westlichen Kulturkreis findet sich häufig eine eher ablehnende Einstellung gegenüber dem Stillen. Die Sexualisierung der weiblichen Brust, Bedenken im Hinblick auf die Muttermilch als Körperflüssigkeit und die Tatsache, dass das Stillen in der Öffentlichkeit wenig Akzeptanz findet, führen dazu, dass auf Säuglingsmilchnahrung zurückgegriffen wird. Maßnahmen müssen darauf abzielen, für die Förderung der öffentlichen Gesundheit zu werben und „geschützte“ Räume für Frauen zu schaffen. In modernen Gesellschaften sind Mütter einem generellen Druck ausgesetzt, der ihnen das Gefühl geben kann, dass Stillen nicht möglich ist. Fehlende Unterstützungsangebote für Mütter von Neugeborenen und der Umstand, dass viele Familien über große Entfernungen verstreut leben, können dazu führen, dass Mütter erschöpft sind und das Stillen aufgeben. Auch die Notwendigkeit oder der Wunsch, an den Arbeitsplatz zurückzukehren, kann der Grund dafür sein, dass eine Mutter auf das Stillen verzichtet, da es ihr zu schwierig erscheint, beides miteinander zu vereinbaren. Es sind höhere Investitionen in die Gesundheitsversorgung von Müttern und Anspruch auf einen längeren Mutterschafts- bzw. Erziehungsurlaub erforderlich.
Die Einstellungen und Normen in Bezug auf das Stillen sind eng mit der ethnischen Zugehörigkeit verknüpft. Im Vereinigten Königreich sind die Stillraten weißer Mütter britischer Herkunft am niedrigsten. Frauen mit einem schwarzen, asiatischen oder chinesischen Hintergrund dagegen stillen insgesamt häufiger und länger. Dies ist überwiegend auf die kulturellen Normen und die Unterstützung in ihrer Gemeinschaft zurückzuführen. Umgekehrt stillen schwarzamerikanische Frauen in den USA deutlich kürzer, was mit der historischen Erfahrung der Sklaverei, einer schlechteren Gesundheitsversorgung und mit Armut zusammenhängt.
Obwohl die Gesamtstilldauer in Entwicklungsländern optimal ist, wird die Gesundheit des Säuglings durch bestimmte suboptimale Stillpraktiken gefährdet. Hierzu zählen das Hinauszögern des ersten Stillens, das Verwerfen des Kolostrums und die Gabe von prälaktealer Nahrung. Diese Praktiken sind eng mit religiösen und kulturellen Normen verknüpft und müssen sensibel angegangen werden. Sie lassen sich jedoch eindämmen, wenn insbesondere ältere Frauen in diesen Gemeinschaften einen besseren Zugang zu Gesundheitsleistungen und Bildungsangeboten erhalten.
Insgesamt müssen die Regierungen erkennen, dass dringend Bedingungen geschaffen werden müssen, die dem Stillen zuträglich sind. Eine praktische Unterstützung allein reicht nicht aus. Investitionen zahlen sich aus: In Ländern, in denen ein systemischer Ansatz zur Steigerung der Stillraten verfolgt wurde, ist es gelungen, diese und damit die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt zu verbessern.
Die Entscheidung einer Mutter, ihr Kind zu stillen, wird erwiesenermaßen durch verschiedene soziokulturelle Aspekte beeinflusst. Erste Erkenntnisse zeigen, dass in Gesellschaften mit hohem Pro-Kopf-Einkommen die Sexualisierung der weiblichen Brust, Bedenken hinsichtlich der Muttermilch als Körperflüssigkeit sowie eine geringe Akzeptanz des Stillens in der Öffentlichkeit offenbar erheblich dazu beitragen, dass sich Mütter für Säuglingsmilchnahrung entscheiden. In Ländern mit niedrigem bis mittlerem Pro-Kopf-Einkommen scheinen dagegen kulturelle bzw. religiöse Überzeugungen eine größere Rolle zu spielen. Familiäre Einflüsse und berufliche Aspekte sind überall von großer Bedeutung.
Aufklärungsmaßnahmen müssen alle Faktoren in den Blick nehmen, um Müttern eine fundierte Entscheidung zu ermöglichen.
Regierungen müssen die Dringlichkeit erkennen, ein stillfreundliches Umfeld zu schaffen. Hierfür sind praktische Unterstützungsangebote, Investitionen sowie ein interdisziplinärer und mehrstufiger Ansatz zur Steigerung der Stillraten erforderlich.